Cannes 2023: Deutsche Vergangenheit und türkische Gegenwart
The Zone of Interest (Jonathan Glazer; © Courtesy of A24)
Deutsche Vergangenheit
Mit Spannung wurde im Wettbewerb der englische Film „The Zone of Interest“ (Interessengebiet) erwartet, eine sehr freie Bearbeitung des gleichnamigen Romans von Martin Amis. Im Mittelpunkt steht die Figur des SS Obersturmbannführers und Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höss. Regisseur Jonathan Glazer, der auch das Drehbuch schrieb, konzentriert sich ganz auf Höss’ Familienleben, die Beziehung zu seiner Frau Hedwig und seinen fünf Kindern. Dabei achtet Glazer peinlich darauf, das Grauen des KZ nicht ins Bild zu rücken, sondern nur über die Tonspur erfahrbar zu machen.
Hedwig Höss (Sandra Hüller mit hochgesteckten Zöpfen im BDM-Style) erfüllt sich den Traum von einem ‚Paradiesgarten‘ mit Gemüsebeeten und Gewächshaus, während hinter der Mauer die Hölle des KZ beginnt. Wir hören Hunde bellen, Befehle hallen und Schüsse fallen. Unberührt von der sie umgebenden Realität erfreut sich „Mutzi“ Höss, wie ihr Mann sie nennt, an den Beutestücken der Inhaftierten und posiert im Pelzmantel vor dem Spiegel. Rudolf Höss (Christian Friedel mit radikal rasiertem Haaransatz sehr nah an der historischen Figur) zeigt sich als aufmerksamer Familienvater und liest den Mädchen Märchen vor, wenn sie nicht einschlafen können. Diskret gönnt er sich gelegentlich sexuelle Dienstleistungen durch eine der inhaftierten Frauen.
Wie in einem Panoptikum werden der Kommandant und seine Frau aus der Entfernung beobachtet. Nur als Höss nach Oranienburg versetzt wird, brechen Gefühle auf. Sie will sich unter keinen Umständen von ihrem Haus und Garten trennen, ihm fällt nichts schwerer als der Abschied von seinem Pferd. Dass die Figur von Höss, der zu keiner Selbstreflektion fähig scheint, nach einem rauschenden SS-Fest auf die Treppe kotzt, könnte man als physischen Ekel angesichts der horrenden Realität seiner erfolgreichen Lagerverwaltung deuten.
Bei der Kritik stieß „The Zone of Interest“, wie zu erwarten, auf große Begeisterung. Die Mehrzahl der Kritiker zeigte sich tief berührt von der historischen Relevanz des Themas sowie von der zurückhaltenden Umsetzung, die auf jeden KZ-Voyeurismus verzichtet. Eine skeptische Minderheit, wie auch der Verfasser dieser Zeilen, empfanden den Film auf merkwürdig minimalistische Weise prätentiös, in der Art wie er die Szenen mit einem didaktischen Ausrufezeichen versieht. Man spürt die Absicht und ist verstimmt.
Wie schon Hannah Arendt wusste, waren die Nazis weniger sadistische Psychopathen als bürokratisch ‚korrekte‘ Verwalter des Massenmords. Durchaus fähig zu einem fürsorglichen Familienleben, einer Leidenschaft für Tiere und klassische Musik. Die Art, wie Jonathan Glazer unterstellt, dass man diese Wahrheit den Zuschauern (noch einmal) nahebringen muss, unterschätzt das historische Bewusstsein des Publikums.
Türkische Gegenwart
Wer in Cannes vor 20 Jahren Nuri Bilge Ceylans Meisterwerk „Uzak – Weit“ gesehen hat, wird wohl nie vergessen, wie der damals kaum bekannte türkische Regisseur das Festival eroberte, auf Anhieb den Großen Preis der Jury und seine beiden Protagonisten den Darstellerpreis gewannen. Seitdem wurde Ceylan mit all seinen Filmen in den Wettbewerb eingeladen und mehrfach ausgezeichnet. Mit „Winterschlaf“ gewann er 2014 schließlich die Goldene Palme. Insofern verspricht ein Film von Ceylan immer einen cineastischen Höhepunkt. Sein neues Werk mit dem mysteriösen Titel „Kuru Otlar Üstüne“ (About Dry Grasses/Über trockenes Gras) knüpft in gewisser Weise an „Uzak“ an.
Beide Filme spielen im Winter, diesmal ist der Schauplatz nicht Istanbul, sondern ein kurdisches Dorf im abgelegenen Südosten des Landes. Der Film beginnt damit, dass ein Mann einsam durch den Schnee stapft auf dem Weg zu der Schule, an der er seit vier Jahren als Kunstlehrer unterrichtet. Die Einsamkeit des Auftakts wird den Lehrer Samet als Leitmotiv durch den ganzen Film begleiten. Er hadert mit der abgelegenen Gegend und träumt von der Rückkehr nach Istanbul. Als er der Englischlehrerin Nuray begegnet, wird sein individualistischer Lebensentwurf auf die Probe gestellt. Missbrauchsvorwürfe und opportunistische Kollegen stellen eine überraschende Parallele zu Ilker Cataks Film „Das Lehrerzimmer“ her.
In epischer Länge von mehr als drei Stunden erzählt Ceylan von verlorenen Hoffnungen und Träumen, von gescheiterten Illusionen und dem hartnäckigen Wunsch nach Veränderung. Einerseits eine individuelle Geschichte mit Figuren wie aus einem Stück von Tschechow, die in der Provinz festhängen und vom Leben in der Großstadt träumen, andererseits ein präzises Gesellschaftspanorama, das die politischen Konflikte in der Kurdenregion beiläufig zur Sprache bringt. Nicht zuletzt geht es um die Frage von politischem Engagement versus Beharren auf skeptischer Distanz. Wie immer in den Filmen von Ceylan sind es die Frauen, die eine klarere Vorstellung vom Leben haben, während es den Männern schwerfällt, sich aus ihrer narzisstischen Apathie zu lösen. Das gilt vor allem für die Hauptfigur des Lehrers, der in seiner Ambivalenz sich nicht gerade als Sympathieträger eignet.
Am Ende ist der Schnee plötzlich verschwunden und der Lehrer kommentiert aus dem Off die Flüchtigkeit des Sommers, in dem das Gras kaum Zeit hat, grün zu werden, sondern die Wiesen sofort wieder vertrocknen annehmen. Kein Ende voller Hoffnung.