Cannes 2023: Kirche und Kommunismus

"Rapito" von Marco Bellocchio und "Il sol dell'avvenire" von Nanni Moretti

Kirche

Im vergangenen. Jahr wurde Marco Bellocchio in Cannes mit einer Goldenen Palme für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Vor beinahe 60 Jahren drehte der heute 83jährige Italiener seinen ersten Film und ist immer noch aktiv. Wiederholt hat er sich in seinen Filmen mit seiner streng katholischen Erziehung auseinandergesetzt. Explizit in „L’ora di religione“ (2002) und jetzt in „Rapito“ (Die Entführung), seiner siebten Einladung in den Wettbewerb von Cannes.

Es geht um ein historisches Ereignis aus dem Jahr 1858. Der 6jährige Edgardo Mortara, Sohn einer jüdischen Familie in Bologna, wird von der päpstlichen Polizei gewaltsam seinen Eltern entrissen und der Obhut des Papstes anvertraut. Eine Haushälterin behauptet, ihn als Baby heimlich getauft zu haben. Bologna war damals ein Teil des Vatikanstaats und Papst Pius IX. der letzte Papstkönig („Rei Papa“), der über die Hälfte Italiens herrschte.

Der Fall macht internationale Schlagzeilen, doch alle Bemühungen der Familie, den Jungen zurückzuholen, bleiben erfolglos. Der kleine Edgardo wird wie in einer Gehirnwäsche auf den katholischen Glauben eingeschworen. Als die Truppen der italienischen Monarchie Rom erobern und die politische Herrschaft des Papstes beenden, ist es zu spät. Edgardo ist von seiner Familie wie auch der jüdischen Kultur völlig entfremdet. Beispielhaft stehen dafür zwei Szenen, wie Edgardo sich unter dem Rock seiner Mutter versteckt, als die Polizei ihn verschleppen will, während er sich später beim Versteckspielen unter der Soutane des Papstes versteckt.

Bellocchio inszeniert dieses kriminelle Kapitel der Kirchengeschichte mit der Wucht und Leidenschaft eines Melodramas. Es ist schockierend, welche Formen der katholische Antisemitismus annimmt, der „die Juden“ als Mörder Christi diffamiert, für die nach ihrem Tod eine Limbo genannte Vorhölle, ein ewiger Schwebezustand, vorgesehen ist.

Angesichts seines Machtverlusts reagierte Pius IX. mit aggressiver Abwehr und verkündete fundamentalistische Dogmen wie das der Unbefleckten Empfängnis Marias, der Unfehlbarkeit der päpstlichen Autorität sowie der Drohung, diejenigen zu exkommunizieren, die es wagten, an Wahlen teilzunehmen. Bellocchios Film ist nur historisch relevant, er thematisiert auch die Gegenwart, wenn z.B. der Papst den kleinen Jungen auf den Schoß nimmt und ihm über die Haare streicht, denkt man sofort an die skandalöse Missbrauchsgeschichte der katholischen Kirche.

Für den Autor ist Bellocchio ein starker Favorit für die Goldene Palme. Nach so vielen Jahren und Filmen in Cannes wäre es an der Zeit.

Kommunismus

Wie Bellocchio ist auch Nanni Moretti häufiger Gast des Festivals. Mit seinem neuen Film „Il sol dell’avvenire“ (Die Sonne der Zukunft) ist er zum neunten Mal in den Wettbewerb eingeladen, öfter als jeder andere Regisseur. 2001 gewann er hier mit „Das Zimmer meines Sohnes“ die Goldene Palme. Sein neuer Film ist so etwas wie eine Bilanz seiner cineastischen Karriere. Man findet jede Menge Zitate und Verweise auf frühere Filme. Einmal mehr geht es um die Frage: Was bedeutet es, Kommunist zu sein? Eine Frage, die Moretti in seinem Klassiker „Palombella Rossa" (Wasserball und Kommunismus, 1989) nachdrücklich gestellt hat, als die Kommunistische Partei Italiens nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme Osteuropas in eine Identitätskrise gerät.

In „Il sol d‘avvenire” spielt Moretti den Regisseur Giovanni, der viele Eigenheiten mit seinem Autor teilt. Er dreht einen Film, der im Jahr 1956 spielt. Der ungarische Zirkus „Budavari“ kommt nach Rom, um die italienischen Genossen zu besuchen. In Budapest beginnt in diesem Augenblick der Aufstand gegen das stalinistische Regime, der blutig niedergeschlagen wird. Silvio Orlando als Chefredakteur der Parteizeitung „L’Unitá“ will abwarten, wie die Parteiführung reagiert, während seine Parteigenossin und Geliebte, Vera (Barbara Bobulova), zur Solidarität mit dem ungarischen Aufstand aufruft. Sie versteht den Film ohnehin eher als eine Liebesgeschichte.

Regisseur Giovanni ist auch privat vom Schicksal gebeutelt, seine Frau (Margherita Buy) will ihn verlassen, sein französischer Koproduzent (Mathieu Amalric) entpuppt sich als Luftnummer. Er versteht die Welt nicht mehr, regt sich über Gewalt im Kino und die Ignoranz eines Schauspielers auf, der keine Ahnung hat, dass es in Italien einmal eine kommunistische Partei gegeben hat. Selbstironisch wie lange nicht mehr macht sich Moretti über die eigenen Marotten lustig. Ein großartiges Comeback nach einigen schwächeren Filmen der letzten Jahre.