Kritiken von Peter Paul Huth zu den Wettbwerbsfilmen von Todd Haynes und Aki Kaurismäki

Überraschend

Der Amerikaner Todd Haynes ist ein Regisseur, der mit jedem neuen Film überrascht, durch die Unterschiedlichkeit seiner Sujets wie durch die Eleganz seiner Inszenierung. Mit „May December“ ist er zum vierten Mal in den Wettbewerb von Cannes eingeladen. Es ist seine sechste Zusammenarbeit mit Julianne Moore, die Gracie spielt, eine Frau, die vor 20 Jahren Mann und Kinder verließ, eine Affäre mit einem 13jährigen Schüler anfing und dafür im Gefängnis landete. Elizabeth Berry (Rachel Portmann), eine Hollywood Schauspielerin, die in der Verfilmung die Figur Gracies verkörpern soll, kommt nach Savannah, South Carolina, um Gracie und ihre Familie kennenzulernen. Mit ihrem Besuch reißt sie alte Wunden auf und stößt Konflikte an, die lange verdrängt wurden.

Doch so gradlinig wie diese Zusammenfassung klingt, ist der Film nicht gebaut. Eher wie ein erzählerisches Labyrinth, in dem der Zuschauer sich zurechtfinden muss. Das ist zuerst verwirrend, weil man nicht weiß, in welcher Beziehung die Figuren zueinanderstehen und wie man ihre Reaktionen einordnen soll. Man folgt der Spurensuche von Elizabeth und taucht dabei immer weiter in die Vergangenheit der Familie ein. Gracie betont etwas zu emphatisch, wie glücklich doch alle in dieser Patchwork-Familie seien. Die dahinterliegenden Frustrationen, die Wut der Kinder aus erster Ehe und Gracies eigene Verlustängste deuten auf eine Realität hin, die offensichtlich viel weniger perfekt ist als Gracie sie gerne sehen würde.

Ähnlich wie in dem von Douglas Sirk inspirierten Melodrama „Far From Heaven“ (Dem Himmel so fern, 2002) und der Patricia Highsmith-Verfilmung „Carol“ (2015) beweist Todd Haynes einmal mehr sein besonderes Einfühlungsvermögen für Frauenfiguren und seine Fähigkeit, Erzählkonventionen zu unterlaufen. Trotzdem wirkt „May December“ in keiner Weise manieriert und entwickelt eine überraschende Spannung. Ohne Zweifel ein Höhepunkt im diesjährigen Wettbewerb.

Vorhersehbar

Überraschend ist wohl das Letzte, was man über den neuen Film des Finnen Aki Kaurismäki sagen würde. Augenscheinlich macht Kaurismäki – mit leichten Variationen – seit 30 Jahren immer wieder denselben Film. Seine Arthouse-Fans, Kritiker und Zuschauer, lieben ihn dafür. Es sind Geschichten von Außenseitern, die vom Schicksal gebeutelt sind. So auch in „Fallen Leaves“ (Tote Blätter), der Titel nimmt Bezug auf das französische Chanson „Les feuilles mortes“ von Joseph Kosma und Jacques Prévert. Eine Liebesgeschichte zwischen zwei sozialen Außenseitern am Stadtrand von Helsinki. Ansa (Alma Pöyisti) arbeitet in einem Supermarkt, Holappa (Jussi Vatanen) auf einem Schrottplatz. Ansa verliert ihren Job, Holappa trinkt zu viel. Die beiden begegnen und verlieren sich wieder. Aber wie immer in den Kinomärchen des romantischen Finnen gibt es nach allen Widrigkeiten doch noch ein glückliches Ende. Das versprechen schon die bunten Dekors und das warme Licht, mit denen Kaurismäkis langjähriger Kameramann Timo Salminen auch die bescheidensten Räume mit Hoffnung füllt.

Kaurismäkis Figuren agieren so steif, als kämen sie direkt aus einem Wachsfigurenkabinett. Sie leben in Interieurs der späten 50er und frühen 60er Jahre. Es scheint, als ob der Regisseur und seine Filme in einer Zeitschleife hängengeblieben wären. Im Schaukasten eines Kinos hängen Plakate von Kaurismäkis Lieblingsfilmen, Brigitte Bardot neben Jean-Paul Belmondo in „Pierrot le fou“, Alain Delon in „Rocco und seine Brüder“. Kinozuschauer sprechen über Bressons „Tagebuch eines Landpfarrers“ und Godards „Außenseiterbande“. Eine Atmosphäre von Vintage und Retro weht durch den Film. Kaurismäkis Kino wirkt auf seltsame Weise manieriert und epigonal. Aber genau das macht seinen Erfolg aus. Zwischendurch sind es Radio-Nachrichten über den Krieg in der Ukraine, die auf die Gegenwart verweisen.

Einmal mehr erweist sich Aki Kaurismäki als cooler brand-name im europäischen Arthouse-Kino. Wenn sich der Regisseur ein Vorbild an seinem Protagonisten Holappa nimmt und aufhört zu trinken, dann werden wir auch noch in 10 Jahren seinen Kinomärchen in Cannes sehen.

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Festivals

"Perfect Days" von Wim Wenders hat den Preis der Ökumenischen Jury in Cannes gewonnen. Die Goldene Palme ging an "Anatomie d'une chute" (Anatomie eines Falls) von Justine Triet.