Cannes 2024 (4)

Transformationen
Emilia Pérez (Jacques Audiard)

Emilia Pérez (Jacques Audiard; © Shanna Besson)


Vielleicht ist das Kino der ideale Ort, um Fragen fluider Identität ins Bild zu setzen. In aktuellen Debatten wird unter dem Label ‚gendergerechte Sprache‘ linguistische Sensibilität für partikulare Identitäten eingefordert. Andererseits werden in der ‚flüssigen Moderne‘ (Zygmunt Bauman) geschlechtsspezifische Grenzen aufgehoben. All das findet seinen Niederschlag im Kino, exemplarisch durchgespielt in drei französischen Filmen im Wettbewerb von Cannes.

Jacques Audiard ist einer der versiertesten Regisseure des französischen Kinos. Er scheut kein Risiko, jeder seiner Filme ist eine Überraschung. Mit „Dheepan“ (Dämonen und Wunder), der Geschichte eines tamilischen Flüchtlings in der Banlieue von Paris, hat er 2015 die Goldene Palme gewonnen.

Verdient hätte er sie auch für „Der Geschmack von Rost und Knochen“ (2012), als er die prekäre Seite des Lebens an der Côte d'Azur auf die Leinwand brachte.

Sein neues Œuvre „Emilia Pérez“ klingt auf dem Papier einigermaßen absurd. Ein mexikanischer Drogenboss wünscht sich eine Geschlechtsumwandlung und sucht sich die Anwältin Rita (Zoe Saldana), um alles für ihn vorzubereiten. Das Ganze ist auch noch mit optischer Raffinesse inszeniert als ein Musical. Was verrückt klingt, funktioniert perfekt auf der Leinwand. „Emilia Pérez“ ist ein mitreißender Thriller, der in Mexiko gedreht wurde und absolut authentisch wirkt. Die Gesangs- und Tanzeinlagen fügen sich nahtlos in die dramatische Geschichte ein. Bevor der Kartell-Boss Manitas del Monte seinen eigenen Tod inszeniert, bringt er seine Frau und die beiden Kinder in der Schweiz in Sicherheit. Jahre später taucht er als Emilia Pérez, Schwester des Toten, wieder auf.

Die angebliche ‚Tante‘ kümmert sich liebevoll um die Kinder, während die etwas unterbelichtete Mutter Jessi (Selena Gomez) die Nächte mit ihrem neuen Liebhaber (Edgar Ramirez) verbringt. Eine Verbindung, die nichts Gutes verheißt.

Wie viel ist von Manitas del Monte in seiner weiblichen Inkarnation als Emilia Pérez geblieben? Das ist die zentrale Frage, die der Film auf überraschende Weise beantwortet. Vorher gründet Emilia eine Stiftung, die sich um die Suche nach den Opfern der Drogengewalt kümmert. Karla Sofía Gascón ist umwerfend in der Doppelrolle als Manitas del Monte und als Emilia Pérez. Auch Zoe Saldana folgt man atemlos auf ihren verschlungenen Wegen.

Bei den französischen Kritikern gilt „Emilia Pérez“ als großer Favorit für die Goldene Palme. Es wäre ein angemessener Preis für einen herausragenden Film.


Coralie Fargeat ist eine Generation jünger als Jacques Audiard. Vor sieben Jahren machte sie Furore mit ihrem Thriller „Revenge“, in dem eine Frau sich an ihren Vergewaltigern rächt. Jetzt hat sie den Wettbewerb von Cannes mit „The Substance“ aufgemischt, einer Body-Horror-Geschichte in der Tradition von David Cronenberg. Demi Moore spielt eine Fitnesstrainerin mit dem bezeichnenden Namen Elizabeth Sparkle, die im Fernsehen eine erfolgreiche Aerobic-Show präsentiert. Aber, mein Gott, sie ist schon über 50! Viel zu alt für den Sender. Ihr Chef, Dennis Quaid als Karikatur eines Quoten-Maniacs, wirft sie mit einem netten Abschiedsgeschenk raus. Elizabeth will die Demütigung nicht hinnehmen und lässt sich auf eine mysteriöse Verjüngungskur ein. Angesichts der schäbigen Location in einem Hinterhof ahnt man, dass hier Gefahren lauern. Mit Hilfe einer brutal schmerzhaften Injektion entsteigt dem Frauenkörper ihr verjüngtes Alter Ego. Die verführerische Schöne nennt sich Sue (Margaret Qualley) und übernimmt nach einem erfolgreichen Casting Elizabeths TV-Show, die jetzt unter dem Titel „Pump it up!“ läuft.

Einziges Handicap: die beiden Frauen müssen sich gegenseitig ihre Körpersäfte abzapfen, um zu existieren. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Aber wie Coralie Fargeat den sich entwickelnden Body-Horror inszeniert, das kann auch abgehärtete Filmkritiker aus dem Sitz hauen. Souverän setzt die Regisseurin die weiblichen Reize ihrer Protagonistinnen ein, um die Zuschauer zu ködern und anschließend nachhaltig zu schockieren. „The Substance“ ist ein Film, den man im Kino sehen muss, man kann ihn kaum angemessen beschreiben.

Demi Moore, die in ihrer Karriere immer wieder über ihren Körper definiert wurde, liefert eine uneitle Performance der Extraklasse. Margaret Qualley spielt ungeniert die körperliche Überlegenheit und Arroganz der Jugend aus.


Um eine existenzielle Transformation geht es auch in einem dritten französischen Film, „Marcello Mio“. Christoph Honoré, ein äußerst produktiver Autor und Regisseur, ist in Cannes kein Unbekannter und zum zweiten Mal in den Wettbewerb eingeladen. In „Marcello Mio“ schaut Chiara Mastroanni eines morgens in den Spiegel und blickt in das Gesicht ihres Vaters. Mit Perücke, schwarzer Brille, Hut und Anzug verwandelt sie sich in den Marcello von Fellinis Klassiker „Otto e mezzo“ (Achteinhalb) von 1963, in dem es ebenfalls um die Identitätskrise eines Künstlers geht. Chiaras Mutter (Catherine Deneuve) reagiert schockiert auf das neue Outfit ihrer Tochter, ebenso Chiaras Ex-Lover (Melvil Popaud), während ihr früherer Lebenspartner (Benjamin Biolay) eher gelassen damit umgeht. Nur ihr Casting-Partner (Fabrice Lucchini) ist völlig begeistert von der neuen Chiara, die darauf besteht, als Marcello angesprochen werden zu werden.

Im italienischen Badeort Fermia, wo sich schon Catherine Deneuve und Marcello Mastroanni entspannt haben, kommen alle Protagonisten in einem großen Finale zusammen. Man kennt sich und versöhnt sich.

„Marcello Mio“ ist ein leichtgängiger Familienfilm für Insider und Kenner der Pariser Filmszene. Nichts, worüber man länger nachdenken müsste, aber amüsant anzuschauen. Kein cineastisches Schwergewicht wie die Filme von Audiard und Fargeat, aber ein ironisches Spiel mit einem Gender- und Generationswechsel.

Vielleicht besitzt das französische Kino eine besondere Sensibilität für Fragen existenzieller Identität und den Wunsch nach einer Grenzüberschreitung. Anders als im Mainstream von Hollywood, wo ‚full frontal nudity‘ immer noch verpönt ist und Gewalt auf der Leinwand eher toleriert wird als Sex.