Cannes 2024 (7)

Wettbewerbsbeiträge aus dem Iran und Indien

Einen politischen Höhepunkt hatte man sich in Cannes für das Finale aufgehoben, den Film „The Seed of the Sacred Fig“ (Die Saat des heiligen Feigenbaums) von Mohammad Rasoulof. Unter den Bedingungen der iranischen Zensur wirkt Rasoulofs Film wie ein suizidales Projekt. Ein regimekritischer Regisseur wagt es, einen Film über die Protestbewegung nach dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam zu machen. Die Dreharbeiten fanden unter maximalen Vorsichtsmaßnahmen statt. „Wir fühlten uns wie Drogendealer und Gangster“, sagte er bei der Pressekonferenz, „wie ein Gangster des Kinos“.

Die Schauspielerin Serateh Maleki. ergänzte, dass sie bis kurz vor Drehbeginn nicht wusste, wer der Regisseur sein würde. Masha Rostami, die im Film ihre Schwester spielt, durfte das Drehbuch nur in einem sicheren Raum lesen. Es war ihr erster Film und sie war sofort begeistert von dem Projekt, denn sie hatte selbst an den Protesten teilgenommen und war verletzt worden.

Mohammad Rasoulof sagte, dass er sich bei der Geschichte an realen Personen orientiert hatte. Ein Gefängniswärter berichtete ihm, dass er nicht in der Lage sei, seiner Familie zu sagen, was er tagsüber mache und womit er sein Geld verdiene.


Eine ähnliche Situation findet sich in Rasoulofs Film. Iman (Misagh Zare) ist gerade zum Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht befördert worden, seinen Töchtern hatte er immer erzählt, dass er im Staatsdienst arbeitet. Er gerät in Konflikt mit seinen Vorgesetzten, weil er sich weigert, ein Todesurteil zu unterschreiben, ohne die Akte gelesen zu haben. Dann wird eine Freundin seiner Tochter bei einer Demonstration schwer verletzt und von den Mädchen und der Mutter versorgt. Dazwischen schneidet Rasoulof dokumentarische Handy-Videos von den Protesten ein.

Der Konflikt zwischen den Töchtern und dem Vater spitzt sich zu, als eine Pistole verschwindet, die er zum Schutz seiner Familie bekommen hat. Mit verbundenen Augen werden die Mädchen von einem Kollegen ihres Vaters verhört, um die ‚Schuldige‘ zu entlarven. Die repressive Gewalt des Regimes trifft auf einmal die eigene Familie.

Die Proteste nehmen zu, der Vater fürchtet um seine Karriere, wenn bekannt wird, dass seine Töchter involviert sind. Seine Frau (Soheila Golestani), die bislang loyal an seiner Seite gestanden hat, beginnt an ihm zu zweifeln. Die Familienmitglieder werden gegeneinander ausgespielt. Der Vater gerät in eine Spirale der Paranoia.

Rasoulofs Film demonstriert auf subtile Weise, wie ein repressives Regime auf die Unterstützung seiner Beamten und einer von den Medien desinformierten Bevölkerung angewiesen ist. Nuanciert entwickelt er das Psychogramm einer Familie, die an ihren inneren Widersprüchen zerbricht.

Mitten in den Dreharbeiten erfuhr Rasoulof, dass er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Er wusste, dass ihm noch vier Wochen Zeit blieben bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts. Als dort das Urteil bestätigt wurde, wusste er, dass er das Land verlassen musste, wenn er nicht die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen wollte. Er hatte zwei Stunden Zeit, um eine Entscheidung zu treffen, dann verließ er sein Haus.

„The Seed of the Sacred Fig” stieg auf Anhieb an die Spitze im Kritiker-Ranking und wurde sowohl von der Ökumenischen Jury wie auch der internationalen Kritik (FIPRESCI) ausgezeichnet. Der Film war plötzlich ein Favorit für die Goldene Palme und gewann schließlich den Spezialpreis des Wettbewerbs.

Am vorletzten Tag des Festivals gab es einen weiteren überraschenden Höhepunkt, den indischen Beitrag „All We Imagine As Light“. Es war der erste indische Film im Wettbewerb von Cannes seit 30 Jahren.


Die Regisseurin Payal Kapadia hatte vor drei Jahren mit "The Night of Knowing Nothing" den Preis für den besten Dokumentarfilm in Cannes gewonnen. Ihr Portrait von drei Frauen in der Metropole Mumbai ist geprägt von einem poetischen Realismus und zugleich von einem unsentimentalen Blick auf den Alltag der Menschen, die in der Millionenstadt zusammenkommen. Prabha (Kani Kusruti) und ihre jüngere Kollegin Anu (Devya Prabha) arbeiten als Krankenschwestern in einem Frauenkrankenhaus. Prabha wurde in einer arrangierten Ehe jung verheiratet, ihr Mann arbeitet seit Jahren in Deutschland. Ihre Einsamkeit versteckt sie hinter strenger Arbeitsdisziplin, zurückhaltend reagiert sie auf die Annäherungen eines Arztes, der Interesse an ihr zeigt. Anu ist lebenslustiger und umtriebiger, sie leiht sich von ihrer älteren Kollegin das Geld für die Miete und trifft heimlich einen gleichaltrigen Muslim (Hridhu Haroon), denn offiziell darf es keine Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen geben. Die dritte Protagonistin ist die Krankenhausköchin Parvaty (Chhaya Kadam), die als Witwe nach dem Tod ihres Mannes keine Ansprüche geltend machen kann und von Immobilienspekulanten aus ihrer Wohnung vertrieben wird. Als sie zurück in ihr Dorf am Meer geht, helfen ihr die beiden Freundinnen beim Umzug.

Nichts Spektakuläres geschieht und doch ist der Film voll emotionaler Spannung. Die Regisseurin Payal Kapadia zeichnet in feinen Strichen das Portrait der riesigen Stadt, zeigt dokumentarisch die Menschenmassen auf den Straßen und in den Zügen. Zugleich sehen wir wie drei selbstbewusste Frauen sich in einer männerdominierten Gesellschaft behaupten, die ihnen nur geringere Recht zubilligt. Ein elegant inszeniertes Frauenpanorama, leichthändig und sozial präzise.