2024 war das Jahr der Frauen in Cannes, was sich unübersehbar bei den Preisen niederschlug. Die Goldene Palme ging zwar an einen Mann, den Amerikaner Sean Baker, mit Mikey Madsen hat sein Film „Anora“ allerdings eine kämpferische weibliche Hauptdarstellerin. In seiner Dankesrede widmete Baker den Preis allen weiblichen Sexarbeiterinnen und plädierte für das Kino als den genuinen Ort, um Filme zu sehen. „Anora“ war auch von mir zum engeren Kreis der Favoriten gezählt worden. Wie auch Carolie Fargeats „The Substance“, der mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde. Die Horrorgroteske lebt von seinen außerordentlichen Protagonistinnen Demi Moore und Margaret Qualley.
Auch mein dritter Favorit, „Emilia Pérez“, für mich der beste Film des Wettbewerbs, wurde mehrfach ausgezeichnet, mit dem Preis der Jury wie auch dem Preis für die besten weiblichen Darsteller, der kollektiv an das Ensemble der Schauspielerinnen Adriana Paz, Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón und Selena Gomez ging. Eine Goldene Palme für den Regisseur Jacques Audiard wäre sicher kein Fehler gewesen.
Die größte Überraschung war wohl der Große Preis der Jury für die Inderin Payal Kapadia. Ihr Spielfilmdebüt „All We Imagine As Light“, ist die unsentimentale Geschichte einer Freundschaft von drei Frauen in Mumbai.
Der Amerikaner Jesse Plemons, der bislang vor allem in prägnanten Nebenrollen zu sehen war, von „Breaking Bad“ bis „Power of the Dog“, wurde als bester männlicher Darsteller für seine Vielseitigkeit in Yorgos Lanthimos' Episodenfilm „Kinds of Kindness“ ausgezeichnet. Diskutabel war der Regiepreis für den Portugiesen Miguel Gomes und sein schwarz/weißes Kolonialepos „Grand Tour“, in dem alle Figuren, ganz gleich, wo sie in Asien unterwegs sind, portugiesisch sprechen.
Bei Mohammad Rasoulofs „The Seed of the Sacred Fig“ hatte sich die Jury für einen Spezialpreis entschieden. Vorher war der Film schon mit dem Preis der Ökumenischen Jury und der Jury der internationalen Filmkritik (Fipresci) ausgezeichnet worden.
Die 77. Ausgabe von Cannes war eine der gelungensten seit Jahren. Es gab wenige Ausreißer und ein breites Spektrum an cineastischer Qualität. Kontroversen um Politik und #MeToo, die im Vorfeld heftig debattiert wurden, traten in den Hintergrund. Die Prognose von Festivaldirektor Thierry Frémaux sollte sich bestätigen, die entscheidenden Konflikte fanden auf der Leinwand statt.