«Das ist ein Film für Gläubige!»
Mit «Godless» hat die Ökumenische Jury einen Film im internationalen Wettbewerb entdeckt, der konsequent den Verlust von menschlichen Werten anklagt. Die Hauptfigur Gana, die als Krankenschwester alte Menschen versorgt, ist Teil einer kriminellen Organisation.
Sie stiehlt ihren Patienten die ID-Karten und verkauft diese dann auf dem Schwarzmarkt. Als sie feststellt, dass dies einschneidende Folgen für ihre Patienten hat, die bis zum «Unfall» mit Todesfolgen führen können, versucht sie dem Teufelskreis der Gewalt und Entmenschlichung zu entgehen.
Werner Schneider-Quindeau, Präsident der Jury, sagte dazu: «Es handelt sich bei ‹Godless› um ein Klagelied im theologischen Sinne. In der Ökumenischen Jury hat uns vor allem dieser Schrei aus tiefster Not überzeugt, der einem Psalm gleichkommt. Darüber hinaus öffnet sich der Film auch für die orthodoxe Liturgie, indem Kirchenlieder eingespielt werden, die einen Zugang zum ‹Anderen› eröffnen.»
Ralitza Petrova, die bulgarische Regisseurin, war nicht überrascht, dass die christlichen Kirchen ihr diesen Preis überreichten. In ihrer Dankesansprache sagte sie: «Das ist ein Film für Gläubige».
Starke Filme aus Osteuropa
Der Titel «Godless» bezieht sich auf einen existierenden Ort in Bulgarien. Er ist aber auch eine Metapher, die theologische Bedeutung hat. Werner Schneider-Quindeau: «Auch wenn die Lage verzweifelt erscheint, gibt es eine Sehnsucht, aus dieser Not erlöst zu werden. Das ist Theologie vom Feinsten an einem Filmfestival.» Da der Film auch gestalterisch gelungen ist, erhielt das Erstlingswerk von Ralitza Petrova ebenfalls den Goldenen Leoparden, den wichtigsten Preis des Festivals.
Die osteuropäischen Filme waren insgesamt sehr stark im Wettbewerb: Der rumänische Film «Scarred Hearts» über den Tod in einem Sanatorium ebenso wie das polnische Familienporträt «The Last Family» über einen Maler und seine dysfunktionale Familie. Bulgarien war zudem mit der Tragikomödie «Glory» in Locarno präsent, die soziale Ungleichheiten aufdeckt. Besonders beeindruckt war die Ökumenische Jury von dem Circus-Film «Mister Universo» und dem täglichen Kampf einer ukrainischen Migrantin in Düsseldorf im Film «Marija». Beide wurden mit einer Lobenden Erwähnung ausgezeichnet.
Arbeitslosigkeit und Radikalisierung
Nicht nur der Jury, auch dem Publikum auf der Piazza Grande wurden Filme zugemutet, die aktuelle Probleme unserer Gesellschaft behandeln. Aus Frankreich war dies der Film «Le ciel attendra» von Marie-Castille Mention-Schaar.
Es handelt sich um die Geschichte der 16-jährigen Mélanie und der 17-jährigen Sonia, die vom IS in Frankreich rekrutiert werden. Feinfühlig und mit hohem aufklärerischem Potential zeigt die Produktion auf, wie Mädchen angeworben und zum radikalen Islam konvertiert werden. Es handelt sich um eine Form der Gehirnwäsche, vor allem auch über die Sozialen Netzwerke. Sehr erhellend sind Szenen aus einer Selbsthilfegruppe von Eltern, die sich mit dem Verlust ihrer Töchter auseinandersetzen müssen.
Der grosse Alt-Meister aus England, Ken Loach, präsentierte seinen neuen Film «I, Daniel Blake» in Locarno. Für das Sozialdrama hat er bereits in Cannes die Goldene Palme und eine Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury erhalten. Das Publikum auf der Piazza reagierte sehr offen auf diesen Film über Arbeitslosigkeit und die Mechanismen des sozialen Ausschlusses.
Ken Loach sagte an der Medienkonferenz vom 11. August in Locarno: «Heute gibt es Menschen in Grossbritannien, die Hunger leiden; das ist etwas, das ich einfach nicht akzeptieren kann.» Und: «Gegen diese Zustände müssen wir gemeinsam kämpfen. Ich tue dies mit meinen Möglichkeiten des Kinos.» Mit dem Publikumspreis von Locarno wurde das Sozialdrama als einer der besten Filme in diesem Festivaljahrgang hervorgehoben.
Religiöse Themen sind stark präsent
In der Filmkritikerwoche, die im Rahmen des Festivals eine Auswahl von sieben Dokumentarfilmen präsentiert, wurden Filme gezeigt, die aus religiöser Sicht interessant sind. So etwa der polnische Film«Monk of the Sea», ein Porträt eines jungen Thailänders, der für zwei Wochen in ein buddhistisches Kloster eintritt.
Positiv überrascht hat insbesondere die Dokumentation «Komunia», in der die polnische Regisseurin Anna Zamecka einen liebenden Zugang zu zwei Geschwistern findet, die sich auf die Erste Kommunion vorbereiten: Der 10-jährige Nikodem ist Autist und wird vom Priester von der Vorbereitung auf die Kommunion ausgeschlossen. Nur auf Insistieren von Zamecka darf er seinen Weg zur Aufnahme in die Gemeinschaft der katholischen Kirche gehen. Mit viel Ausstrahlung und Pragmatismus setzt sich auch seine Schwester Ola für Nikodem ein. Ein beglückender Moment im Kino, der mit dem Preis der Kritikerwoche vom Verband der Schweizer Filmjournalistinnen und -journalisten ausgezeichnet wurde.
Charles Martig
Mitglied der Ökumenischen Jury in Locarno