Reflexionen zu Berlinale-Filmen des Jahrgangs 2012. Von Heike Kühn

Immer häufiger beschäftigt sich das Kino mit der Frage, wie man der Prophezeiung entgehen kann, die den Menschen auf die Tragödie festlegt. Wozu sich blenden wie König Ödipus, wenn der Schaden schon angerichtet ist? Warum nicht rechtzeitig die Augen aufmachen? Warum sollte es nicht möglich sein, die für Freud prototypische Aussage der Sphinx zu hinterfragen – und sich selbst dazu?  Er werde einen Sohn zeugen, wird Laios, dem Vater von Ödipus geweissagt, der ihn töten und mit seiner eigenen Mutter schlafen werde. Bei Sophokles gibt König Laios den Auftrag, den neugeborenen Sohn zu töten und löst damit das altbekannte Unheil aus. Es ist eine großartige Geschichte, und wie alle großartigen Geschichten gehört sie erneuert. Man stelle sich nur mal vor, was Aki Kaurismäki daraus machen würde. Laios und Iokaste entschuldigen sich bei dem Mann, der sie wegen einer früheren Untat verflucht hat. Der Fluch wird anlässlich eines finnischen Tango-Wettbewerb von Einbeinigen aufgehoben und alle trinken Wodka, das ist schon gar keine Frage des Konjunktivs. Ödipus wächst bei liebenden Eltern auf und verliebt sich in die Sphinx. Die Sphinx quittiert daraufhin ihren Job als Missverständnis vom Dienst und nimmt an einer Umschulung zur Wahr-Sagerin teil.

Kaurismäkis Filme haben dem Kino seit 1996 mit Wolken ziehen vorüber die Perspektive des abgewendeten Verhängnis geschenkt.  Doch auch wenn es bislang Kaurismäki überlassen scheint, an der Wiederkehr des Märchens und dem Zauber der Freundschaft festzuhalten, ist es nicht mehr zu übersehen, dass das Kino weltweit mit der Dimension des Schicksalhaften ringt: Nicht länger in Form des aufs Unausweichliche zusteuernden Plots, sondern als Reflexion einer Handlung, die mit dem Schicksal spielt. Auf den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen von Berlin, die das Karma der versammelten Filmkritikergemeinde in dem Maße verbesserte, wie die Filme von Tag zu Tag schöner wurden, kamen in wenigen Tagen gleich drei Filme zusammen, die das Schicksal als kollektives Dreh-Buch inszenieren.

Barbara von Christian Petzold wirkt auf den ersten Blick wie eine Abrechnung mit dem Unrechtsregime der DDR. Nina Hoss reißt sich in der Rolle der Titelfigur umso mehr zusammen, desto brutaler die Kräfte sind, die an ihr zerren. Barbara ist Ärztin. Im Sommer 1980 wird sie von der Berliner Charité in eine Provinzstadt  versetzt. Der Stasi-Offizier, der sie bespitzelt, repräsentiert das Unverständnis eines Landes, das sich mit dem begrenzt Möglichen abgefunden hat. Die Frau hat einen Spitzenjob in der Hauptstadt, und was tut sie? Anstatt dem Arbeiter- und Bauernstaat ihr Studium  abzuzahlen, stellt sie einen Ausreiseantrag. Als Barbara am Ort ihrer Verbannung ankommt, ist sie schon bekannt. Die schöne Frau nimmt den Kampf gegen die allgegenwärtige Demütigung auf. Der Knoten, in dem sie ihr langes Haar bändigt, entspricht ihrer Mimik. Barbara ist der Knoten. Sie wartet auf den Tag, an dem ihr Geliebter aus dem Westen ihre Flucht über die Ostsee organisiert. Ihr Misstrauen gilt auch André, ihrem neuen Chef, in dem sie wider Willen den passionierten Arzt und gleichfalls geschassten Menschenfreund erkennt.


Doch während André sich mit seiner Zwangsversetzung versöhnt hat und sogar "Arschlöcher" behandelt, "wenn sie krank sind", kann Barbara sich der Schönheit des vom Wind zerzausten Landes nicht öffnen. Sie ist einer Zwangsöffnung ausgesetzt, einem staatlich abgesegneten Missbrauch, der den Betrachter dieses auf leidenschaftliche Weise zurückhaltenden Films noch lange verfolgt. Nicht genug, dass die Barbara zugewiesene Bruchbude regelmäßig von der Stasi verwüstet wird; zur Machtdemonstation des Staates, der seine Insassen zu Leibeigenen macht, gehört auch die Leibesvisitation. Die Staatsdienerin, die buchstäblich in Barbara eindringt, kommt als "Besucherin", der die "Besuchte" eigenhändig die Tür aufmachen muss. Es ist diese nüchterne Überlieferung der Stasi-Methoden, die einen Film auszeichnet, der im Untergrund eines erkalteten Heimatgefühls das Feuer der Humanität auflodern lässt.

Barbara


Die halbwüchsige Stella, die in einem Arbeitslager ausgebeutet und vergewaltigt wird,  erkennt in der Ärztin die Seelenverwandte. Zwar kann man sich ausrechnen, dass Barbara ihren Platz auf dem Boot in den Westen an Stella abtreten und dem schwangeren Mädchen damit das Leben retten wird. Doch ist es bei aller Absehbarkeit des Plots ein sehenswerter Prozess, den Petzold und seine umwerfend nuancierte Hauptdarstellerin Nina Hoss aufschlüsseln. Dazu gehört nicht nur, dass sich Barbara und André verlieben oder die Arbeit nach Barbara ruft und plötzlich menschlich klingt. Das Schicksal, das Barbara einen solventen West-Geliebten zugespielt hat, winkt mit der Freiheit. Die Frau, die ihre innere Freiheit findet, winkt zurück und hebt das Schicksal auf. Indem sie eine andere rettet, rettet Barbara sich selbst vor Gleichgültigkeit und Härte. Barbara ist die Geschichte einer seelischen Gesundung, die der Heilung eines ganzen Landes vorausgeht. In Barbara fällt das Land, das die DDR auch war, aus seiner Opferrolle und fordert die Heimat zurück. Am Ende sieht man das Meer, das einen Film lang nur eine verhasste Grenze war.

Was passiert, wenn Menschen Schicksal spielen, das offenbart Modest Reception, ein Film des iranischen Regisseurs Paziraie Sadeh. Programmiert im Forum des Internationalen jungen Films, zeugt Modest reception nicht nur von der erweiterten Strahlkraft und Aufnahmebereitschaft der Berlinale, sondern auch von dem ungebrochenen Mut iranischer Filmschaffenden, sich dem vermeintlich unumgänglichen Berufsverbot – oder Schlimmeren - zu widersetzen. Viele iranische Filmemacher haben diesem Film den Boden bereitet, indem sie in poetischen Andeutungen sprachen, als das Aussprechen oder gar Bebildern theokratischer Willkür als künstlerisches Todesurteil galt. Dieser Film besitzt die Größe der Lessingschen Ring-Parabel und die narrative Eleganz eines Märchens, von dem man wähnt, dass es schon ewig unter den Völkern kursiert.

Paziraie sadeh (Modest Reception)


Ein Mann und eine Frau, die sich als Geschwisterpaar erweisen, falls man das nach der Dekonstruktion aller Glaubenssätze im Film noch glauben kann, fahren mit einem luxuriösen Geländewagen durch die von Armut, Kriegen und Erdbeben erschütterte Region an der Grenze zu Afghanistan. Möglicherweise ist es wirklich so, wie sie es am Ende ihrer Reise einem mitleidigen Soldaten erklären: Dass ihre Mutter diesem Gebiet entstammt und beschlossen hat, ihren Reichtum den gebeutelten Bewohnern zukommen zu lassen. Doch der Satz, der dem Film vorangestellt wird, lässt ahnen, dass sie ihren Auftrag verfehlen. Denn derjenige, der der sich seiner Almosen rühme, so die Mahnung des Anfangs, werde hinweg gewaschen vom Regen wie Staub. Da niemand das viele Geld annehmen will, dass sie in Plastiksäcken spazieren fahren, führen die Spender Mini-Dramen auf, die es den Zwangs-Beglückten unmöglich machen, das Almosen zurückzugeben. Ständig bemüht, ihre "frommen" Lügen zu filmreifen Plots zu verdichten - tatsächlich nehmen sie ihre Taten auch noch mit einer Kamera auf -, stoßen die zynischen Großstädter bald an ihre Grenzen. Ein gottesfürchtiger Alter weigert sich, die Gabe einzustecken, während andere leiden; ein Wirt befürchtet schmutziges Geld aus den Drogenkriegen der Region. Die gute Absicht bleibt im Schlamm stecken. Mit jeder Zurückweisung verlieren die beiden Protagonisten den Zugang zur Heilsbotschaft des Helfens. Auf dem Höhepunkt des quasi-religiösen Krieges, den sie gegen das Elend führen, während sie die Elenden aus dem Blick verlieren, kommt die Frau zu sich und der Mann um seinen Verstand. Sie erkennt, dass das Almosen Tod und Verderben bringt, wenn es ohne Demut, ohne Liebe gegeben wird.

Stellvertretend für die Mullahs und ihr Regime, das Menschen den Glauben aufzwingen zu können wähnt, schwingt sich der Mann zum Herrscher über Leben und Tod auf. Seine Gabe wird von Mal zu Mal giftiger. Ein Bruder soll dem Bruder nichts von dem plötzlichen Reichtum abgeben – Kain lässt grüßen. Ein Lehrer, der dem tiefgefrorenen Boden ein Grab für sein Baby entreißt, soll gar den winzigen Leichnam den Wölfen überlassen. Der Lehrer widersteht lange der mephistophelischen Selbstherrlichkeit, die von dem iranischen Faust Besitz ergriffen hat, dann gibt er auf. Drei seiner Kinder leben noch. Kaum ist der Lehrer mit dem Geld gegangen, gebeugt von Scham und Ekel, wirft sich der schizophrene Verführer auf den Leichnam und bedeckt ihn mit Tränen. Selbst für den, der sein will wie Gott, ist es nicht auszuhalten, dass die Menschen sich seinem verderbten Willen fügen. Satan weint, aber aufhören kann er nicht.

Paziraie sadeh (Modest Reception)


Die, die das Böse für normal halten, setzen dem psychopatischen Treiben ein Ende. Da sie das Geld sowieso loswerden wolle, legt der Anführer der örtlichen Mafia der jungen Frau nahe, könne sie es ebenso ihm geben. Davongekommen mit dem Leben, des Geldes beraubt wie ihrer Illusionen, kehren Mann und Frau zurück. Doch wohin? Und dann ist da noch das Maultier. Das Maultier gehört einem Schmuggler, der das Geld annimmt, um den Preis das geliebte Tier mit gebrochenem Lauf zurückzulassen. Es zu töten, wird er belehrt, wäre doch kein Akt der Gnade. Zunächst sieht es so aus, als würde die Natur der Laune der Frau recht geben. Das Maultier verschwindet. Am Ende werden Mann und Frau das arme Wesen widerfinden, zerquält, hungrig und hilflos. Die Frau erschießt das Tier und blickt in einen Abgrund von Hochmut und Selbstverkennung. Auch sie hat Schicksal gespielt und sich versündigt. Soll man sich also doch dem Schicksal blind ergeben? Weit gefehlt. Modest Reception beharrt auf der Wahl, die der Mensch hat.

 "Nein" zu sagen und dem kollektiven Schicksalsbegriff zu trotzen, den jeder einzelne mit seiner Entscheidung aushebeln kann, davon erzählt auch Billy Bob Thorntons fulminante Vererbungs-Lehre Jayne Mansfield's Car. Zwar sind die Familienmitglieder, die hier stellvertretend für drei Generationen und mehr Kriege horrende Traumata an ihre Sprößlinge weitergeben, Amerikaner. Doch im schrägen Licht der Groteske, in dem Thornton das vermeintlich Normale als Abschussrampe eines blindwütig rotierenden Schicksals entdeckt, sind sie vor allem Angehörige des Menschengeschlechts.

© Van Redin


Opa Jim, der Herr im Hause Caldwell, war als Sanitäter im Ersten Weltkrieg und hat nur rein äußerlich überlebt. Seine drei Söhne, die ihn als Helden verehrt haben und in die Kriege ihrer Zeit gezogen sind, um ihn zu beindrucken, können nicht mit seiner Aufmerksamkeit rechnen: Sie gilt allein dem Tod. Robert Duvall spielt den wortkargen Patriarchen, der nur aus seiner Starre erwacht, wenn es Autowracks und Leichen zu besichtigen gilt, als jovialen Despoten. Seine muntere Ignoranz gegenüber den Leiden seiner erwachsenen Söhne, darunter Billy Bob Thornton in der Rolle des ehemaligen Marine-Fliegers Skip, der als verrückt und sexbesessen abgetan wird, bringt gespenstische Szenen hervor. Selbst wenn Skip seine zahlreichen Ordensnadeln auf seiner nackten, völlig verbrannten Haut trägt und vor dem Vater stramm steht, zieht der es vor, nichts zu sehen und vor dem Schlafengehen  den Genuss einer Kugel Eis zu empfehlen. Seinen widerstrebenden Enkel schleppt der Alte zu einem Unfall mit, obschon der Junge auf seinen übervollen, beinahe platzenden Darm hinweist. Die Analfixierung auf den Tod wird hier so wörtlich genommen, dass sie nicht mehr als psychoanalytisches Schlagwort, sondern als familiäre Not(durft) erscheint. Die Groteske ist die Waffe, die der Schauspieler-Regisseur Billy Bob Thornton in seinem epochalen Spielfilmdebüt aufs nationale und internationale Heldentum richtet.

Das Jahr ist 1969 und Jim Caldwell ist eigentlich damit beschäftigt, sich für seinen als Anti-Kriegs-Kiffer verhafteten Sohn Carroll (Kevin Bacon) zu schämen. Doch dann kommt die Nachricht, dass Jims Ex-Frau verstorben ist und verfügt hat, als Leiche nach Hause zurückkehren zu wollen, und zwar aus England. Ihr englischer Ehemann und ihre erwachsenen Kinder werden auf diese Weise gezwungen, den amerikanischen Teil der Familie zu treffen. Während die Kinder aus beiden Ehen erwarten, dass sich die Väter als ehemalige Rivalen befehden, verbrüdern die sich im Gedenken an die guten alten blutigen Zeiten. Wie Jim Caldwell war auch der Engländer Phillip Bedford im Ersten Weltkrieg und hat dessen Schrecken zugunsten einer patriotischen Sinn-Konstruktion verklärt. Dass sein Sohn im Zweiten Weltkrieg Gefangener der Japaner war und den Krieg als Folteropfer verpasst hat, ist Mr. Bedford zuwider. Am Ende versöhnen sich wenigstens die Caldwell-Söhne, die bis dahin – ein jeder für sich # in unterschiedlichen Kriegs- und Vatertraumata eingeschlossen sind. Doch ausgerechnet der Sohn des Vietnam-Gegners Carroll meldet sich freiwillig, um einem Freund beizustehen, der eingezogen worden ist. Oder doch eher, weil die Fernseh-Bilder von Vietnam coole Typen zeigen, die unter Palmen Rockmusik hören?

© Van Redin


Zeitgleich zur Berlinale erschien am 15.Februar 2012 ein Artikel in der der Süddeutschen Zeitung, der Wolfram Ettes Buch Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung als Buch rühmte, dessen Kritik "sich nicht bloß auf die literarische Gattung (der Tragödie, H.K.), sondern auf ihr historisch – anthropologisches Fundament" richtet, "die teleologische Sinnkonstruktion als solche, die durch die klassische Metaphysik in die Tragödie hineinprojiziert worden ist". Die Beschäftigung mit dem tragischen Konflikt und seiner Aufhebung scheint in der Luft zu liegen, interdisziplinär und verlockend wie alles, was zyklisch wiederkehrt. "Der Tod ist keine Lösung," hieß es schon 1963 in Godards Film Die Verachtung. Lange Zeit sah es so aus, als sei der Tod im Kino die einzige (Er)Lösung von schicksalshaften Verstrickungen. Nun löst sich diese fatale Selbstwahrnehmung auf, man denke nur an Debra Graniks Film Winter's Bone. Jenseits des seriellen und abgeschmackten Happy Ends internationaler Instantfilme (alles zusammenschütten, Zuschauer durchrühren), gibt es auf einmal Lösungen, die eine Brücke zum besseren Verständnis des Tragischen schlagen. Für Wolfram Ette, so sein Rezensent Michael Fischer, sei es etwa wichtiger, "das Leiden zu verringern, als ihm einen Sinn zu geben." Mag also sein, dass nicht alle Protagonisten der hier vorgestellten Filme den Wahn aufgeben können, an das Unveränderliche zu glauben. Aber so viel Lösung wie auf dieser Berlinale war lange nicht.

Information

Erstellt

Festivals