Am Anfang der Fluss. Eine Krähe lässt ihre krächzenden Artgenossen zurück und fliegt zum nächsten Baum. Unter ihr ein Kahn. Die Kamera folgt ihm ein kurzes Stück flussabwärts, dann kommen die Menschen am Ufer ins Bild: Entspannt genießen sie in den Liegestühlen die spätsommerliche Abendsonne oder sitzen auf der Terrasse des Restaurants. Durch das vielsprachige Stimmengewirr hindurch führt der Weg in das Zelt hinein, eine großzügige Halle. Unter den vielen, die hier unterwegs sind oder in Gruppen zusammenstehen, folgt der Blick einem, der nun auf die Eingangstür des Kinozeltes zusteuert und im Dunkeln verschwindet. - So könnte ein Film beginnen.
Direkt am Mannheimer Rheinufer hatte das Filmfestival seine „Zeltpaläste“ aufgeschlagen. Alles unter einem Dach: die großen Kinosäle und die Einzelsichtplätze, das Restaurant und die „Mannheim Meetings“, die Filmgespräche und die Partys. Die Vorteile liegen auf der Hand. Die Nachteile leider auch. Jeder vorbeifahrende Kahn ist zu hören, die Heizlüfter sorgen für ein durchdringendes Getöse. Außerdem sind die Mannheimer noch nicht ganz überzeugt, aus ihrer quadratischen Innenstadt herauszukommen. Dennoch, das neue Konzept ist zukunftsfähig. „Wenn wir heute nichts ändern, bleibt nichts so wie es war“, begründet Festivaldirektor Dr. Michael Kötz in seiner Eröffnungsrede die einschneidenden Veränderungen.
Am Anfang die Familie. Oder was von ihr noch übrig ist. Auffallend viele Filme im Programm des Festivals kreisen um die Suche nach der Familie. Noch immer müssen etliche Protagonisten aus den Verstrickungen und der Enge ihrer Familie ausbrechen, um individuelle Freiheit zu finden. Daneben tritt jedoch ein nur scheinbar gegensätzliches Motiv: Aus den Überresten der Familie etwas zu machen, das Schutz gibt. Häufig sind es gerade die fragmentarischen, durch Tod oder Trennung oder andere Schicksale beschädigten Familienkonstellationen, die die Handlung eines Films vorantreiben.
Der junge Hauptdarsteller im polnischen Beitrag Sztucki (Tricks/Gezauberte Wirklichkeit, Polen 2007) ist auf der Suche nach seinem Vater, der die Familie vor langer Zeit verlassen hat. Dabei bedient er sich allerlei magischer Tricks, um die Wirklichkeit in seinem Sinn zu beeinflussen. Im geduldigen Experimentieren mit Ursache und Wirkung eignet er sich die Welt der Erwachsenen an und findet heraus, wie man Tauben zum Fliegen, Eisenbahnen zum Stehen und den Vater zur Rückkehr bringt. Besonders die schauspielerische Leistung des Protagonisten und seiner Schwester machen den Film zu einem Genuss.
Auch der mit dem Großen Preis ausgezeichnete Blodsbånd (Mirush und sein Vater, Norwegen 2007) wird von seinem jugendlichen Hauptdarsteller getragen. Der 15jährige Mirush macht sich auf die Suche nach seinem Vater, der die Familie im Kosovo verlassen hatte, um in Norwegen ein neues Leben anzufangen. Dabei schlägt das Kind auf naiv-berechnende Weise eine Schneise der Verwüstung, die den Zuschauer verstört und ratlos zurücklässt: ein mysterium tremendum und fascinosum gleichermaßen. So ist es nur angemessen, dass die Internationale Jury sich von diesem als „Todesengel“ agierenden Anti-Helden „widerwillig angezogen“ fühlte. Als Regisseur Marius Holst bei der Preisverleihung seinen Hauptdarsteller Nazif Muarremi von der Bühne aus per Handy im Kosovo anrief, schallte ihm dennoch aufrichtig anerkennender Applaus entgegen. Die Schwächen im Drehbuch und das unglaubwürdige Ende waren für eine Weile vergessen.
Der Belgier Stéphan Carpiaux ging für seinen mit prägnanten Bildern und Farben komponierten Film Les fourmis rouge (Ein langer Abschied, Frankreich/Belgien/Luxemburg 2007) leider leer aus. Déborah François (als Sonia in „L’enfant“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne bekannt geworden) spielt darin die 16jährige Alex, die nach dem Tod der Mutter zwischen den diffusen Rollenerwartungen des Vaters und der Suche nach eigener Identität, zwischen Trauer und Pragmatismus aufgerieben wird. Dann trifft sie auf Hector, der auf sich seine Weise aus den Rollenzuweisungen einer dominanten Tante befreien muss.
Auch die 29jährige Protagonistin des chinesischen Films Gong yuan (Das Glück im Park, China 2007) muss sich gegen die Zumutungen ihres Vaters wehren. Der kommt unangekündigt zu Besuch – und zwingt die selbstbewusste Fernsehjournalistin in einen familiären Machtkampf. Als er im Stadtpark auf die Suche nach einem Heiratskandidaten für seine unverheiratete Tochter geht, spitzt sich der Konflikt zu. Vor allem die sorgfältig inszenierten Bilder, die die Innenwelten der Wohnungen und der handelnden Figuren zueinander in Beziehung setzen, machen den Film sehenswert.
Am Anfang der Tod. Mehrere Filme beginnen mit einem Todesfall. In Le cèdre penché (Monas Töchter, Kanada 2007) des Kanadiers Rafael Ouellet sehen wir die beiden Protagonistinnen bei der Beerdigung ihrer Mutter das Ave Maria singen. Danach werden die Schwestern (Punk und Folk) sich erbittert streiten, bis sie schließlich über die Musik ihrer Mutter (Country) wieder zusammenfinden. Leider ist die ergreifende Chorszene am Anfang schon der Höhepunkt des Films, der sich zum Ende hin in langatmige Musikaufnahmen verliert.
Cover Boy… (L’ultima rivoluzione) (Herbst/Winter Kollektion, Italien 2007) von Carmine Amoroso beginnt im Rumänien zur Zeit der Revolution von 1989. Der kleine Ioan muss mit ansehen, wie sein Vater während der Erstürmung des Parlaments erschossen wird. Jahre später verlässt Ioan das Land in Richtung Italien. Er lernt Michele kennen, der ihm Unterschlupf gewährt. Zwischen dem Flüchtling und dem arbeitslosen Koch entwickelt sich eine Männerfreundschaft. Doch dann wird Ioan als Fotomodell entdeckt und ihre Wege trennen sich. Bis Ioan merkt, wohin er wirklich gehört. Ein vielschichtiger Film über Würde und Entwürdigung, Arbeit und Arbeitslosigkeit, über Heimat, die nur als Traum existiert. Die ökumenische Jury zeichnete ihn mit einer lobenden Erwähnung aus.
Auch der Publikumspreisträger Desierto Sur (Das Glück meiner Mutter, Chile 2007) von Shawn Garry nimmt seinen Ausgang vom Tod. Die Schwimmerin Sofia (Marta Etura) macht sich Vorwürfe, ihrer sterbenden Mutter in den letzten Minuten nicht beigestanden zu haben. Sie findet den Brief eines Geliebten ihrer Mutter und macht sich auf den Weg von Barcelona nach Chile, um die Asche ihrer Mutter dort in der Wüste, in „Desierto Sur“ zu zerstreuen. Unterwegs trifft sie auf die nervige Nadia und den zwielichtigen Gustavo. Immer wieder werden das „Wasser“ und die „Wüste“ in opulenten Bildern einander gegenübergestellt. Am Ende ihrer Reise findet Sofia – allzu vorhersehbar - zu sich selbst.
Der Slowene Metod Pevec lässt in Estrellita – Pesem za domov (Estrellita – Take Away Song, Slowenien/Deutschland 2007) den berühmten Geiger Mihail Fabiani in der Anfangsszene auf der Bühne sterben. Seine Witwe erhält später Besuch vom musikalischen Wunderknaben Amir, der als Kind bosnischer Flüchtlinge in einer Barackensiedlung wohnt. Während die Witwe das Kind fördern will und ihm deshalb die wertvolle Geige ihres Mannes zur Verfügung stellt (aber nur um damit die Geliebte ihres Mannes zu stellen), setzt ihr Sohn die Mutter des Kindes unter Druck. Eine melodramatisch verwickelte Geschichte über Liebe und Trauer, und über die Musik, die alle berührt.
Der ökumenische Preisträger Uden for kærligheden (Outside Love/Die Muslimin und der Jude, Dänemark 2007) schließlich beginnt auf einem Friedhof und endet in Auschwitz. Shmuli Shapiro lebt nach dem Tod seiner Frau mit seinem fünfjährigen Sohn Taylor bei seinen Eltern im Beton-Ghetto am Rand von Kopenhagen. Die beiden träumen davon, nach Amerika auszuwandern. Doch dann verliebt sich Shmuli – ausgerechnet in die pakistanische Muslimin Amina, die einen kleinen Laden betreibt. Beide kommen in Konflikt mit ihrer jeweiligen Familie. Tatsächlich gelingt es dem Regisseur Daniel Espinosa, alle guten Gründe für das Misstrauen zwischen den beiden verfeindeten Kulturen zur Sprache zu bringen: Selbstmordattentate in Israel und die Zumutungen der Besatzung, die „Jewish Defense League“ und die Spendenbüchse für die Al-Aksa-Brigaden. So wird umso deutlicher und glaubwürdiger, warum die beiden nicht zueinander kommen können. Dass es am Ende doch gelingt, wird nur möglich, weil beide Seiten bereit sind, ihre nur allzu verständlichen Grenzen zu überschreiten. Die Muslimin begleitet den Juden nach Auschwitz, und erst dort ist seine Mutter in der Lage, in ihr den Menschen und nicht mehr die Gegnerin zu sehen. In der Schlussszene balanciert der kleine Taylor auf den Gleisen in Auschwitz, weg von dem Transportwaggon im Hintergrund, vorwärts in eine hoffentlich menschlichere Zukunft. Shalom, singt er.
Außerhalb des Wettbewerbs sei vor allem der herausragende Film Mutluluk (Bliss, was übersetzt eigentlich „Glück“ heißt, in Mannheim-Heidelberg aber als „Der Ehrenmord“ lief, Türkei 2007) erwähnt. Nach dem Roman des großen türkischen Musikers Zülfü Livaneli erzählt Regisseur Abdullah Oguz von der 17jährigen Meryem, die sterben soll, weil sie vergewaltigt wurde und nicht den Täter verrät. Ihr Cousin Cemal soll sie töten. Die beiden machen sich auf den Weg, aus dem dann eine Flucht wird, und stoßen dabei auf den Intellektuellen Irfan. Die Beziehungen dieser drei zueinander, das Verhältnis von Tradition und Moderne und die gemeinsame Suche nach dem Glück sind mit großen Bildern und natürlich wunderbarer Livaneli-Musik inszeniert. Es ist zu hoffen, dass dieser Film – ebenso wie die Preisträger – bald in deutschen Kinos zu sehen sein wird.