Die Retrospektive des Kinos der sechziger Jahre auf der diesjährigen Berlinale hat demonstriert, dass die mit dem Namen der Nouvelle Vague verknüpfte Erneuerung des Films keineswegs nur ein westeuropäisches, sondern mindestens ein gesamteuropäisches Phänomen war, wenn nicht sogar eine Bewegung des Weltkinos. Roman Polanski, der sich keiner nationalen Kinematographie zuordnen lässt, konnte schon immer als Musterfall für diese Beobachtung gelten. Aus den sechziger Jahren stammt sein Ruhm als Autor, etabliert durch drei unvergessene filmische Kammerspiele, von der eskalierenden Dreieckskonstellation seines polnischen Erstlings Nóz w wodzie (Das Messer im Wasser, 1962) über die klaustrophile Studie einer sexuell verstörten Paranoikerin in Repulsion (Ekel, 1965) mit einer nach England entführten Catherine Deneuve bis hin zum allen Zuordnungen spottenden Solitär Cul-de-Sac (Wenn Katelbach kommt, 1966), seltenes Beispiel eines vom absurden Theater inspirierten Kinos. Es sind Polanskis Beiträge zu einem die Internationale bürgerlicher und kleinbürgerlicher Konventionen herausfordernden Filmkunst der Abweichung und Irritation, von der Warte eines distanzierten, manchmal amüsierten Skeptikers entworfene Szenarien des schwankenden Grundes allgemein anerkannter Selbst- und Lebensentwürfe. Schon vorher hatte er sich während und nach seiner Ausbildung an der Filmhochschule Lodz mit surrealen, inzwischen zu Klassikern avancierten Kurzfilmparabeln einen Namen gemacht, so mit Dwaj ludzie z szafa (Zwei Männer und ein Schrank, 1958).
Der Ruhm unter Cinéasten ist eines, die Anerkennung des Publikums, gar im internationalen Maßstab, ein anderes. Bei Polanskis in den folgenden Jahren gedrehten Variationen des Genrekinos konnten sich beide einig sein. Die noch in England entstandene Vampirkomödie Dance of the Vampires (Tanz der Vampire, 1967) brauchte noch etwas Anlaufzeit, bis sie sich als Kultfilm durchgesetzt hatte. Polanski selbst spielt darin den ängstlichen Gehilfen des weltfremden Vampirologen Professor Abronsius, der die ausgehungerten transsylvanischen Blutsauger nicht als leibhaftige Ausgeburten der Hölle, sondern konsequent als seiner Bibliothek entsprungene Forschungsobjekte (v)erkennt. Das lustvolle, ironische Spiel mit den Genrekonventionen wirkt heute wie eine Vorwegnahme postmoderner ästhetischer Strategien. Umgekehrt hat Polanski in seinem Welterfolg Rosemary's Baby (1968) die Horrorgeschichte von der Wiedergeburt des Teufels aus den beruhigenden Begrenzungen des Genres befreit und zu einem virtuosen Psychothriller verschärft. Wie schon in Repulsion versetzt der Film den Zuschauer in das Universum einer weiblichen Psyche, in die unheilsschwangere Welt, die Mia Farrows verschreckte, jungverheiratete Katholikin Rosemary in sich trägt und aus sich heraus gebiert. Gleichzeitig inszeniert Polanski minutiös den Alltag eines New Yorker Ehepaars der sechziger Jahre, und es bezeugt sein künstlerisches Genie, dass wir die Ambiguität zwischen rationaler und paranoider Wahrnehmung bis zum Schlussbild des Films nicht auflösen können.
Eine persönliche Katastrophe, die Ermordung seiner zweiten, hochschwangeren Ehefrau Sharon Tate durch weibliche Anhänger des psychopathischen Sektenführers Charles Manson unterbricht die Kontinuität von Polanskis künstlerischer Biographie. Es dauert drei Jahre, bis er wieder dreht, und zwei weitere Filme, die Shakespeare-Adaption Macbeth (1971) und die erotische Farce Che? (Was?, 1973), bis er wieder zu seinem vollen Können zurückfindet. Mit der Hollywoodproduktion Chinatown (1974) mit Jack Nicholson als Detektiv Jake Gittes in der Hauptrolle gelingt ihm der überragende film noir der siebziger Jahre. Sehen sich seine empfindsamen Heldinnen in Repulsion und Rosemary's Baby einem übermächtigen Geschehen ausgesetzt, das die Scheidung zwischen Innen und Außen, Realität und Imagination zerbricht, so wird Gittes Opfer seiner Eitelkeit, Selbstüberschätzung und seines verfrühten Triumphes. Er verkennt die Dimension einer Intrige, die sich hinter dem Routinefall eines Ehebruchs verbirgt, und die Abgründigkeit seines Gegners Noah Cross, den John Huston als souveränen, in sich ruhenden Patriarchen gibt. Angesiedelt im Los Angeles der dreißiger Jahre, unterscheidet sich Chinatown von seinen klassischen Vorbildern durch die neurotische Verfassung seiner Figuren und die den urbanen Kosmos durchdringende Verschmelzung von Macht, Ökonomie und Verbrechen. Der archaischen Potenz eines auch über das Inzest-Tabu erhabenen Übervaters steht der impotente Nachfahre von Humphrey Bogarts Marlowe und sein sowohl erotisches als professionelles Versagen gegenüber.
Die ominöse Chiffre Chinatown ist eine weitere und nicht die letzte Metamorphose einer für Polanskis Filme strukturbildenden Topographie, einer Anfang und Ende seiner Erzählungen kreisförmig schließenden Bewegung, die seine Protagonisten in einen trügerischen Schutz versprechenden, zuletzt ausweglosen Binnenraum, einen huis clos versetzt. Es sind keine bergenden Sphären, sondern bedrohliche, isolierende Zellen, in denen sich existentielle Ängste stauen und entladen. Schon Noz w wodzie porträtiert eine Zwangsgemeinschaft, ein für die Dauer eines Wochenendes auf einer Segelyacht zusammengepferchtes Trio aus zwei sexuell rivalisierenden Männern und der Ehefrau des Älteren. In Repulsion zieht sich die Maniküre Carol in eine von Tag zu Tag verwahrlostere Wohnung zurück, in der sie immer krasseren Vergewaltigungsphantasien erliegt. Der Schauplatz von Cul-de-Sac ist ein nur bei Ebbe erreichbares Inselkastell, bewohnt von zahllosen Hühnern und einem Ehepaar, dessen brüchige Beziehung durch die joviale Brutalität eines flüchtigen Gangsters gesprengt wird.
Man hat darin eine biographische Grunderfahrung Polanskis erkennen wollen. Er entkam dem jüdischen Ghetto von Krakau, während seine Familie ins KZ deportiert wurde. Polanski, 1933 in Paris als Kind von Exilpolen geboren und vor dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Eltern nach Krakau zurückgekehrt, hat diesen Bezug immer von sich gewiesen. In seinem lange Zeit als persönlichste Arbeit geltenden Film Le locataire (Der Mieter, 1976) findet sich das Thema der Ausweglosigkeit noch einmal gesteigert. Der in einer pariser Mietwohnung hausende Exilpole Trelkovsky, von Polanski selbst verkörpert, leidet unter der Mißgunst seiner Nachbarn, durchlebt in seiner Isolation eine Persönlichkeitsspaltung und sieht sich zuletzt in den Selbstmord getrieben. Nach dieser beklemmenden Psychostudie schien Polanskis künstlerische Inspiration versiegt. Tess (1979), eine gediegene Romanverfilmung nach Thomas Hardy, Pirates (Piraten, 1984), ein lange gehegtes Lieblingsprojekt, der Thriller Frantic (1988) oder Bitter Moon (1994), die Geschichte einer erloschenen sexuellen Obsession, wurden nur noch als handwerkliche Leistungen ohne den irrlichternden Geist seines früheren Werks gewürdigt. Jetzt, mit The Pianist, hat er am Drama des Überlebens im warschauer Ghetto, seinem eigensten Stoff, zur Souveränität eines großen Regisseurs