Nachruf auf Bertrand Tavernier (1941-2021). Von Peter Paul Huth


Zum ersten Mal persönlich begegnet bin ich Bertrand Tavernier in einem Schneideraum in Boulogne-Billancourt in der Nähe von Paris. Er war gerade mit der Endfertigung von „La princesse de Montpensier“ (Die Prinzessin von Montpensier, 2010) beschäftigt, einem historischen Drama angesiedelt zur Zeit der Hugenottenkriege. Wir haben ihn nach Clint Eastwood gefragt, mit dem er seit seiner Zeit als Presseagent befreundet war. „Clint ist sozial progressiv und politisch konservativ“ brachte Tavernier Eastwoods Ambivalenz auf den Punkt. Dass er sich während des Schnitts Zeit nahm, um über einen Regisseur zu sprechen, den er schätzt, war typisch für Taverniers viel gerühmte Großzügigkeit. Später haben wir ihn zu Stephen Frears oder Quentin Tarantino befragt und jedes Mal wurde das Gespräch zu einer komprimierten Leçon de cinéma.

Damals im Schneideraum zeigte er uns eine noch unvertonte Kampfszene aus seinem neuen Film und wies darauf hin, dass er bewusst junge Darsteller besetzt habe, um den Geist der Epoche so authentisch wie möglich wiederzugeben. Eine ähnliche Herangehensweise prägte schon seinen zweiten Film, „Wenn das Fest beginnt…“ (Que la fête commence…,1975), mit Philippe Noiret als Philippe von Orleans, der als Prinzregent des noch unmündigen Ludwig XV. mit Bauernrevolten in der Bretagne konfrontiert wird. Der Kontrast zwischen der höfischen Libertinage und dem bäuerlichen Milieu gibt dem Film seine soziale Sprengkraft.


Philippe Noiret war es auch, der Tavernier ermöglichte, sein Kinodebüt „Der Uhrmacher von Saint Paul“ (L’Horloger de Saint-Paul, 1974) zu realisieren, als das Projekt an der Finanzierung zu scheitern drohte. Tavernier liebte es, literarische Vorlagen frei zu adaptieren, wobei er gerne Zeit und Schauplatz veränderte. So verlegte er den Roman von Georges Simenon von einer amerikanischen Kleinstadt in das Lyon der Gegenwart.

Ähnlich verfuhr er mit Jim Thompsons Hardboiled-Kriminalgeschichte „Pop. 1280“, die er umstandslos aus dem Texas der 1910er in das koloniale Senegal der 1930er Jahre übertrug. „Der Saustall“ (Coup de torchon, 1981) wurde einer der erfolgreichsten Filme Taverniers. Der Titel „Coup de torchon“ bedeutet so viel wie mit dem Lappen darüber gehen, reinen Tisch machen. Genau das tut Philippe Noiret als abgehalfterter, von seiner Frau betrogener Gendarm im senegalesischen Hinterland. Eine böse Abrechnung mit dem französischen Kolonialismus von bestechender Komik.

 

Detailgenau und realistisch rekonstruiert er in „Das Leben und nichts anderes“ (La vie et rien d’autre, 1989) die Atmosphäre zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs. Philippe Noiret sucht als französischer Offizier nach vermissten Soldaten und trifft auf Sabine Azèma als großbürgerliche Kriegerwitwe, woraus sich eine ebenso unsentimentale wie melancholische Liebesgeschichte entwickelt. Eindringlich demonstriert der Film, wie die Figuren von den Verwüstungen des Kriegs gezeichnet sind.

Sieben Jahre später greift Tavernier, wieder in Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Jean Cosmos, das Sujet des Ersten Weltkriegs erneut auf. „Capitaine Conan“ (Hauptmann Conan und die Wölfe des Krieges, 1996) spielt im November 1918, auf dem Balkan.  In der Titelrolle Philippe Torreton als kaltblütiger Anführer eines Stoßtrupps, der hinter den feindlichen Linien keine Gefangenen macht. „Capitaine Conan“ wurde von der amerikanischen Kritik völlig zu Recht als einer der besten Kriegsfilme gelobt.

Enthusiastisch fielen auch die Reaktionen auf „Autour de minuit“ (Um Mitternacht, 1986) aus, der, mit schwarzen Musikern hochkarätig besetzt, als einer der besten Filme über Jazz gilt. Dexter Gordon spielt einen alkoholabhängigen Saxophonisten im Paris der 50er Jahre, dem ein französischer Fan hilft, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Martin Scorsese, ein enger Freund Taverniers, tritt als amerikanischer Konzertagent auf. Die Musik stammt vom kürzlich verstorbenen Herbie Hancock, der dafür einen Oscar gewann. Ein melancholischer Jazzfilm, der unter dem englischen Titel „Round Midnight“ Taverniers größter internationaler Erfolg wurde.


Einmal nimmt der Fan, gespielt von François Cluzet, den amerikanischen Musiker mit zum Essen bei seinen Eltern, und es ist kein Zufall, dass diese Szene in Lyon spielt. Tavernier, der 1941 in Lyon geboren wurde und nach dem Krieg mit seiner Familie nach Paris zog, pflegte zeitlebens eine intensive Beziehung zu seinem Geburtsort. Sein Vater René Tavernier, Dichter und Herausgeber einer literarischen Zeitschrift, war mit Louis Aragon und seiner Frau Elsa Triolet befreundet. Sie verband das gemeinsame Engagement für die Résistance während der deutschen Besatzung. Voller Staunen erinnerte sich Volker Schlöndorff, der Bertrand Tavernier als Austauschschüler in Paris kennenlernte, an die intellektuellen Gespräche am Familientisch und die Wände voller Bücher.

Sechs Jahre nach dem „Uhrmacher von Saint Paul“ kehrt Tavernier mit „Ferien für eine Woche“ (Une semaine de vacances, 1980) nach Lyon zurück. Nathalie Baye als erschöpfte Lehrerin, die für eine Woche krankgeschrieben ist, streift durch die Stadt, redet mit Kollegen und Bekannten, trifft sie zum Essen in unspektakulären Restaurants. Ein Milieu, in dem Tavernier sich zuhause fühlte. Wie man den Bewohnern von Lyon nachsagt, liebte er gutes Essen und Gespräche mit Freunden.

Zu seinen zahlreichen Façetten zählte auch der sozialkritische Blick auf die Probleme der französischen Gesellschaft, wie in "Ça commence aujourd'hui" (Es beginnt heute, 1999), in der er sich anhand eines engagierten Vorschuldirektors mit der Arbeitslosigkeit im deindustrialisierten Norden des Landes auseinandersetzte. Die Ökumenische Jury verlieh ihm dafür ihren Preis bei der Berlinale 1999.


2010 gründete er zusammen mit Thierry Frémaux in Lyon das Festival Lumière, benannt nach den Brüdern Auguste und Louis Lumière, die dort vor mehr als 120 Jahren das Kino erfanden. Das Festival, das Tavernier mit großer Leidenschaft begleitete, ist ganz der Filmgeschichte gewidmet. Tavernier war überall präsent, er kommentierte Retrospektiven, stellte restaurierte Filme vor und moderierte Gespräche mit Kinolegenden wie Clint Eastwood, Milos Forman und Martin Scorsese.

Dass Filmgeschichte Taverniers große Leidenschaft war, kommentierte Martin Scorsese in seinem Nachruf: „Bertrand konnte einen K.o. reden, wenn er über das Kino sprach, über die Filme, die er liebte und die er hasste“.

Sein letztes großes Projekt war eine dokumentarische „Reise durch das französische Kino" (Voyage à travers le cinéma francais, 2016). Sechs Jahre hat er daran gearbeitet, 950 Filme gesichtet und 94 davon, die in der Zeit von den 1930er bis in die 1970er entstanden sind, ausgewählt und kommentiert. Ein monumentales Werk, das trotz einer Länge von mehr als drei Stunden keine Minute langweilig wird.

Bei unserem letzten Interview, im Oktober 2018 im Rahmen des Festival Lumière, war Tavernier schon von der Krankheit gezeichnet, an der er am 25. März im Alter von 79 Jahren gestorben ist.

Seinen (optimistischen) Lyon-Film „Ferien für eine Woche“ kommentierend (Une semaine de vacances, Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury in Cannes 1980), sprach Tavernier von „einem Moment, in dem man keine Lust mehr hat, den Dingen hinterherzurennen, sondern sie lieber anhalten möchte und sich die Zeit nehmen, sie zu betrachten.“ Man möchte sich vorstellen, dass er diese Zeit jetzt gefunden hat.

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