Der Osten zwischen Gewalt und Hoffnung

Bericht vom Filmfestival Cottbus 2001


Gewalt ist die prägende Erfahrung der Menschen in den osteuropäischen Ländern, glaubt man den Filmen des Festivals des osteuropäischen Films in Cottbus. Es ist die Gewalt der jugoslawischen Bürgerkriege, es ist  die Gewalt des organisierten Verbrechens und die Abwesenheit von staatlich gewährleisteter Durchsetzung des Rechts, die Menschen verändert - und es sind doch immer wieder Menschen, die sich nicht abfinden, die inmitten des falschen Lebens das richtige suchen. Ist es Zufall, dass es zumeist Mädchen und Frauen sind, die Wege aus der bedrückenden Situation finden?

Schwestern (Festival-Preis der Ökumenischen Jury) ist der erste Film in der Regie von Sergej Bodrov jr., der bisher als jugendlicher Schauspieler in Russland bekannt geworden war (u.a. in „Gefangen im Kaukasus“ seines Vaters Sergeij Bodrow).

Sweta (13) kann ihre jüngere Halbschwester Dina (8) nicht leiden. Als der Stiefvater aus dem Gefängnis nach Hause kommt, muss sie das Feld räumen. Schon bald bilden die beiden Schwestern allerdings eine Schicksalsgemeinschaft. Gangster drohen damit, die beiden zu entführen, um an das Geld des Stiefvaters zu gelangen. Die Suche nach einem sicheren Versteck und nach Menschen, denen sie vertrauen können, führt sie aus Moskau auf das Land und lässt sie manch eine bizarre Situation erleben.  Die Sportschützin Sweta lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen, aber ihre pfiffige und erfindungsreiche kleine Schwester kann auch sie nur bestaunen. Langsam nähern sich die beiden Schwestern einander an. Hervorragend ist das Casting, insbesondere die Hauptdarstellerinnen könnten nicht besser besetzt sein. Bodrow jr. hat sich auch selbst einen kleinen Auftritt zukommen lassen, in dem er augenzwinkernd mit seinem eigenen Ruhm spielt. Herausgekommen ist ein formal und inhaltlich überzeugender Film, der durchaus Chancen auf ein größeres Publikum hat, in osteuropäischen Ländern hat er es schon gefunden.


Um ein Geschwisterpaar und um Sportschützen geht es auch in dem jugoslawischen Film Volle Einhundert (Spezialpreis der Internationalen Jury, FIPRESCI-Preis, Spezial-Preis der Oekumenischen Jury). Srdan Golubović  hat diesen Film noch unter Milosović begonnen, ihn dann nach dessen Regierungszeit fertig gestellt.

Igor, erfolgreicher Schütze, Olympiasieger und Vorzeigeathlet, kommt als Junkie und in organisierte Kriminalität verwickelt aus dem Bürgerkrieg nach Haus. Einmal erzählt er, welches Erlebnis ihn gebrochen hat: er musste auf einen Menschen schießen und hat ihm dabei ins Gesicht gesehen. Sein Bruder Sasa eifert ihm als Sportschütze nach, er hat sein Talent und bereitet sich mit Erfolgsaussichten auf einen internationalen Wettkampf vor. Aber Igor kann seine Drogenschulden nicht mehr bezahlen und muss den Schießstand der Familie an einen schmierigen Unterweltboss verkaufen. Zunächst hilflos muss Sasa mit ansehen, wie der bewunderte große Bruder gedemütigt wird und immer mehr abstürzt. Aber Sasa will sich nicht abfinden, greift zum Gewehr und beginnt, die Peiniger seines Bruders mit gezielten Schüssen zu töten. Nur mit diesem Akt meint er, die Würde seines Bruders wieder herstellen zu können. Einmal geht etwas schief, die Polizei kommt den Brüdern auf die Schliche. Aber nun übernimmt Igor die Verantwortung für die Taten, die sein jüngerer Bruder stellvertretend für ihn getan hat, und tötet sich selbst, damit Sasas Leben weiter gehen kann. Goluboviº zeigt den irrsinnigen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt im Jugoslawien nach den Kriegen. Einen Ausbruch aus dieser Welt der Männergewalt unternimmt allein Sasas Freundin: sie geht ins Ausland, ihre einzige Chance.


Um Vergangenheitsbearbeitung geht es in dem albanischen Film Slogans von Gjergj Xhuvani. Im Enver-Hodscha-Albanien der 70er Jahre wird der Lehrer André an eine Dorfschule in der Provinz versetzt. Erst nach und nach versteht er, was seine Kollegen und die Schüler am meisten beschäftigt: der Schuldirektor verteilt regelmäßig an die Kollegen und ihre jeweiligen Schulklassen politische Slogans, die mit weißen Steinen an den Berghängen auszulegen sind. Eine zarte Liebesgeschichte auf der einen Seite und Repression der Partei und Ausgrenzung einzelner „Reaktionäre“ auf der anderen Seite markieren die Pole dieser Geschichte aus einer jahrzehntelangen Diktatur.

Dem Film, dem die einfachen Produktionsbedingungen auch im heutigen Albanien anzumerken sind, gelingt ein ruhiger Blick auf eine Gesellschaft voller Absurdität. Vieles scheint übertrieben, ist aber nichts anderes als Realsatire. Überraschend vergab die Internationale Jury ihren Hauptpreis an diesen Film, nicht ohne hinzuzufügen, dass es sich um eine politische Entscheidung handelt, um gerade Filmen aus den ärmsten Ländern Aufmerksamkeit und Unterstützung zukommen zu lassen.


Ganz anders, viel aufwendiger produziert und westlichen Sehgewohnheiten näher, ist der Film No Man's Land von Danis Tanović, eine slowenisch-französisch-italienisch-belgisch-britische Co-Produktion, die erwartungsgemäß den Publikumspreis in Cottbus erhielt. Auch hier wird die Absurdität einer Situation gezeigt, allerdings viel spektakulärer als in dem albanischen Beitrag. Zwischen den Fronten des bosnisch-serbischen Krieges, in den Schützengräben des Niemandslandes, stoßen versprengte Soldaten aufeinander, was schließlich zu einer Situation führt, die grotesker und perfider nicht gedacht werden kann: ein verwundeter Soldat liegt auf einer Mine, die in dem Moment explodiert, wenn er sich bewegt oder aufgehoben wird. Die Logik der Kriegsführung ist außer Kraft gesetzt, die internationalen Friedenstruppen - z.T. als Karikatur inszeniert - blamieren sich und die Medienmeute stürzt sich auf ein neues Spektakel. Manches Lachen bleibt einem im Halse stecken.


Der Bürgermeister von Cottbus formuliert es prägnant: Die früher - zu DDR-Zeiten - verordnete Nähe zu den osteuropäischen Ländern ist nun zur Chance für einen Brückenschlag geworden. Öffentlich im Westen nur wenig wahrgenommenen (Film-)Welten wird hier ein Raum geboten.

Ein Wort fiel (öffentlich) nicht in Cottbus: „Wiesbaden“! Ganz unaufgeregt behauptet Cottbus seinen Platz als den Ort, an dem sich osteuropäische Filme von großer Qualität versammeln, auch wenn das mit viel Geld aus dem Boden gestampfte Wiesbadener Festival nach langer Vorlaufzeit inzwischen an den Start gegangen ist.

Das FilmFestival Cottbus atmet nach wie vor den Charme eines aus der Film-Club-Bewegung entstandenen Festivals. Auch wenn die Organisation jetzt der Agentur „Pool-Production“ obliegt, auch wenn ein  Kuratorium gegründet worden ist und man Kontakt mit der Berlinale sucht, auch wenn prominente Namen das Festival schmücken (Tschingis Aitmatow als Patron des Regionalen Fokus Zentralasien, István Szabó als Ehrenpräsident) und die Sponsoren-Werbung optimiert werden soll, auch wenn mit „Connecting Cottbus“ nun auch ein filmwirtschaftliches Forum zur Verfügung steht, Festivalleiter  Roland Rust, Organisationsleiter Peter Fischer und ihr Team vermitteln nach wie vor das angenehme Gefühl des Nicht-Perfekten und immer noch Improvisierten. Als Rust zur Preisverleihung auf der Bühne steht, spürt man ihm an, dass das Rampenlicht nicht sein Lieblingsaufenthaltsort ist, eher das Dunkel des Kinos oder das Gespräch mit Filmschaffenden im spärlich beleuchteten Foyer.

Die Arbeit in der Ökumenischen Jury, nun zum dritten Mal in Cottbus dabei, hat inzwischen einen selbstverständlichen Stand in Cottbus. Die Kieslowski-Biographin Margarethe Wach aus Köln, der Leiter des OCIC-Büros Paris Hervé Monmarché und die filminfizierten Pastoren Agris Sutra aus Riga und Dietmar Adler aus dem Niedersächsischen fanden trotz Sprachbarrieren (es gab keine allen gemeinsame Sprache) in ernsthafter Auseinandersetzung eine von allen gemeinsam getragene Entscheidung. Dass Jury-Arbeit wirklich Arbeit bedeutet wurde am letzten Tag besonders deutlich: nach einer morgendlichen Jury-Sitzung waren von 13 bis 22 Uhr vier Filme zu sichten, um dann von 22 bis 2 Uhr die Entscheidung nebst Begründungen zu finden. Ein Tag mehr täte dem Festival gut, das ist auch die Auffassung des Festival-Leiters Roland Rust, allein, ihm fehlt das Geld.  Eine Aufgabe für die Zukunft der ökumenischen Arbeit beim Cottbuser Festival wird sein, Kontakt zu den lokalen Kirchen zu suchen.