Goldener Bär und Ökumenischer Filmpreis für "Bal"
Der Gewinner im Wettbewerb, Semih Kaplanoglus Bal (Honig), erzählt von der Kindheit Yusufs, die in der Bergwäldern der nordöstlichen Türkei spielt. Sein Vater ist ein Honigsammler, der seine Körbe in den Baumwipfeln platziert. Die Wege durch den Wald gemeinsam mit dem Vater sind für Yusuf viel interessanter als das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen in der Schule. Die Natur als Lehrmeisterin verlangt die väterlichen Kenntnisse und eine besondere Achtsamkeit. Da die Bienen sich immer mehr zurückziehen, verlässt der Vater die Familie, um in anderen Regionen Honig zu finden. Yusuf verfällt in eine Stummheit, die wie das Warten der Mutter von tiefer Sorge gezeichnet ist. Poetischer Bilderreichtum, ökologische Sensibilität und ein Gespür für die "education sentimale" eines Jungen, der später ein Dichter wird, kennzeichnen den Film in seinem ruhigen Rhythmus und seinen meditativen Einstellungen. Die Fragen nach dem geheimnisvollen Zusammenhang allen Lebens, nach Gott, aber auch nach den Kräften und dem Glauben, der die eigene Entwicklung prägt, stellen sich. Bal ist schliesslich auch ein Gleichnis für die Wahrnehmung von Gottes Schöpfung und unserer Fähigkeit, ihr mit Achtsamkeit und poetischem Respekt zu begegnen. Damit wird er zu einer Stimme in der ökologischen Krise unserer Zeit. - Die internationale Jury war ebenfalls von diesem Film überzeugt und verlieh ihm den "Goldenen Bären".
Der Ökumenische Filmpreis im Panorama
Eine andere Erinnerungsspur entwirft der Preisträger im "Panorama", Kawasakiho Ruze (Kawasakis Rose) von Jan Hrebejk aus Tschechien. Ein angesehener Psychiater, der sich professionell mit Fragen der Erinnerung beschäftigt, wird von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt. Denn bevor er Dissident in einem totalitären Staat wurde, hat er einen früheren Freund verraten und ihn aus dem Land getrieben. Nun kommt heraus, dass dieser Freund der leibliche Vater seiner Tochter und ehemalige Geliebte seiner Frau war, an dessen Stelle er getreten ist. Wie ein privater Konflikt unter den politischen Umständen eines totalitären Regimes zur Tragödie wird, bei der die Verstrickung in Schuld und deren Verdrängung zum Gift werden, welches das Zusammenleben fast unerträglich zu machen droht, wird auf erschütternde Weise deutlich. Ob es Vergebung für diesen Verrat gibt, bleibt die offene Frage.
"Aisheen" – der Preisträger im Forum
Aktueller, in seiner Wirkung jedoch nicht weniger nachhaltig, sind die Bilder aus dem Preisträgerfilm des "Forums" „Aisheen“ (Still Alive in Gaza) von Nicolas Wadimoff. Kurz nach dem Ende der israelischen Militäroffensive im Februar 2009 gedreht, zeigt der Film auf vielfältige Weise, wie im zerstörten Gazastreifen das Leben wieder Hoffnung gewinnt: eine Rapperband mit engagierten Texten, Clowns, die Kinder wieder zum Lachen bringen oder die Rekonstruktion eines Walskeletts, der am Strand verendet ist. Die Trauer über den Verlust von Angehörigen ist genauso zu sehen wie die Schmugglertunnel an der Grenze zu Ägypten und das Elend der Flüchtlingslager. Es sind alltägliche Beobachtungen, die vom Überlebenswillen berichten. Kritisch wäre anzumerken, dass auch die Stimmen des Hasses zu hören sind, die als wütende Reaktion auf Israels Militärschlag verständlich sind, aber kaum dazu taugen, der geschundenen Region eine politische Perspektive zu eröffnen.
Für die Ökumenische Jury ein grosses Sichtungsprogramm
Die Ökumenische Jury hatte ein weites Feld an Filmen zu sichten: alle Wettbewerbsfilme und jeweils in (mindestens) zwei Dreiergruppen eine Auswahl von Filmen aus Forum und Panorama. Weit über dreissig Filme in acht Tagen, dazu kamen die Jury-Sitzungen und der Ökumenische Empfang der Kirchen mit der Verleihung des Sonderpreises an Prof. Dr. Thomas Koebner für seine filmwissenschaftliche und journalistische Arbeit, der die Filmarbeit der Kirchen wichtige Impulse verdankt. Vor allem sein kluger Blick auf die künstlerische Qualität des Films und die damit verbundene Dialogfähigkeit mit den Traditionen des christlichen Glaubens machen ihn zu einem hochgeschätzten Gesprächspartner kirchlicher Filmarbeit.
Ein Wiedersehen mit bereits Gesehenem
Blickt man auf die Filme der Berlinale in Wettbewerb, Panorama und Forum zurück, dann wird man eher von einem mittelmäßigen Jahrgang sprechen. Vieles war ein Wiedersehen mit bereits Gesehenem. Dass Roman Polanski ein Meisterregisseur ist, stellte er einmal mehr mit dem Politthriller The Ghost Writer unter Beweis. Zhang Yimous A Woman, a Gun and a Noodle Shop belegt die opulente Bildphantasie des chinesischen Regisseurs, ohne dass etwas wirklich Neues zu sehen war. Familiengeschichten wie Apart Together von Wang Quan’an, Submarino von Thomas Vinterberg, Eine Familie von Pernille Fischer Christensen oder Rompecabezas von Natalia Smirnoff spielen mit einer Dramatik, die den Zuschauern durchaus vertraut ist: eine Liebe, die nach 50 Jahren Trennung Taiwans vom kontinentalem China kein Happy End findet, die Söhne einer alkoholabhängigen Mutter, die es im Leben schwer haben, der Familienpatriarch, der unbedingt sein Erbe an ein Familienmitglied übergeben möchte oder die unscheinbare Frau und Mutter, die über ihre Leidenschaft für Puzzles das Leben noch einmal ganz neu kennen lernt. Porträts wie in Howl von Robert Epstein, Greenberg von Noah Baumbach, aber auch Mammuth von Benoit Delepine/Gustave Kervern erzählen von den Schwierigkeiten Einzelner, sich im Leben zurechtzufinden und eine eigene Identität auszubilden.
Interessante Filme zum inner-islamischen Dialog
Interessanter waren die Versuche, den inner-islamischen Auseinandersetzungen zwischen säkularem und traditionellem Islam nachzugehen wie in Shahada von Burhan Qurbani und in Na putu (On the path) von Jasmila Zbanic, die mit Grbavica (Esmas Geheimnis) bereits vor vier Jahren nicht nur den Goldenen Bären, sondern auch den Preis der Ökumenischen Jury (und danach den Europäischen Templeton-Filmpreis) gewonnen hat. Der Weg des Islams nach Westen, der zu erheblichen inneren Auseinandersetzungen führt, wurde hier eindrücklich zum Thema.
Die Erfahrung von Grenzsituationen des Lebens
Geschichten, in denen die Erfahrungen des Gefängnisse prägend waren, boten die Filme Der Räuber von Benjamin Heisenberg, A somewhat gentle man von Hans Petter Moland, Shekarchi (Zeit des Zorns) von Rafi Pitts und If I Want To Whistle, I Whistle von Florin Serban. Nicht nur der Gefängnishintergrund war diesen Filmen gemeinsam, sondern auch die Frage, welche Möglichkeiten der Freiheit und des verantwortlichen Handelns für die so Gezeichneten noch bestehen. Der russische Beitrag How I ended this summer, der den Konflikt zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann in der Einsamkeit einer arktischen Wetterstation schildert und zu einem existentiellen "Endspiel" am Rande der Welt wird und das japanische Drama Caterpillar von Koji Wakamatsu über die Beziehung zwischen einem verkrüppelten Kriegshelden aus dem 2. Weltkrieg, der Arme, Beine und seine Stimme verloren hat, und seiner Frau, die ihn pflegt, spielen mit Beschädigungen, die Menschen einander zufügen.
Und schliesslich: Ärgerliche Wettbewerbsfilme
Ausgesprochen ärgerlich waren zwei Filme im Wettbewerb: Oskar Roehlers Jud Süss – Film ohne Gewissen, der einen Goebbels als Knallcharge vorführt und so tut, als wäre er der erste Film, der sich mit der nationalsozialistischen Propaganda auseinandersetzt, und Michael Winterbottoms The Killer Inside Me, in dem ein psychopathischer Sheriff aus Texas auf grausame Weise Frauen totschlägt, wobei die Darstellung der Gewalt in einer Form ausgespielt wird, dass der Betrachter nur noch verstört und angewidert das Kino verlässt. Vielleicht laden Jubiläen dazu ein, Vertrautes und Bekanntes zu zeigen. Dies ist der Berlinale zweifellos gelungen. Die innovativen und rebellischen Filme hätten diese Stimmung möglicherweise gestört. Jedenfalls fehlten sie im Vergleich zu anderen Jahrgängen.