Die Spreu vom Weizen trennen
Grace ist eine junge Frau, die in einem Zentrum für schwierige Jugendliche arbeitet. Als Animatorin und Betreuerin ist sie täglich mit tragischen Schicksalen konfrontiert. Als Jayden, ein begabter aber rastloser Teenager aufgenommen wird, gerät ihre eigene Work-Life-Balance ins Wanken. Als sie feststellt, dass sie schwanger ist, muss sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen und gleichzeitig die Arbeit in der Auffangstation bewältigen. In einer packenden Erzählung blickt Regisseur Destin Cretton im US-amerikanischen Independentfilm «Short Term 12» in die soziale Realität von zerbrochenen Familien, die zum verzweifeln ist. Dennoch gibt es auch Lebensfreude und die Hoffnung auf ein gutes Ende.
Ökumenischer Preis für «Short Term 12»
«Short Term 12» hat die ökumenische Jury unter dem Präsidium der Schweizer Religionswissenschaftlerin Daria Pezzoli-Olgiati überzeugt: «Missbrauch und Trauma werden mit einem deutlichen und direkten ästhetischen Verfahren präsentiert, welches Engagement und Solidarität zwischen Erziehenden und Bewohnern betont.» Dabei wirkt vor allem die Hauptfigur Grace sehr glaubwürdig. Brie Larson gewann für ihre schauspielerische Leistung als Grace den Silbernen Leoparden für die beste Hauptdarstellerin.
Auch der Schweizer Altmeister Yves Yersin hätte den ökumenischen Preis verdient. Sein Film «Tableau noir» ist ein feinsinniges Porträt der Gesamtschule von Val-de-Ruz im Neuenburger Jura. Er zeigt die humanistische Pädagogik und das Engagement von Gilbert Hirschi, der bereits drei Generationen unterrichtet hat. Hauptdarsteller sind jedoch die Kinder, die in den Mittelpunkt gestellt werden und mit denen wir ein ganzes Schuljahr miterleben. Es wird auch das letzte Jahr der Gesamtschule sein, denn eine Schliessung steht bevor.
So vermittelt Yersin in diesem Mikrokosmos eine menschliche Wärme, eine Neugierde aufs Leben und eine Melancholie über den Verlust der sozialen Mitte dieser Berggemeinde. Wenn Yersin nicht bereits 1979 für «Les petites fugues» einen ökumenischen Preis in Locarno bekommen hätte, müsste man hier wohl von einer verpassten Chance sprechen. Vor diesem Hintergrund ist jedoch der Juryentscheid sehr gut nachvollziehbar, weil sie einem jungen Regisseur mit dem Preisgeld die Distribution in die Schweizer Kinos ermöglicht.
Carlo Chatrian: «Ich will Grenzen spengen»
In Erinnerung bleiben aus dem Wettbewerb sicherlich auch «Gare du Nord» von Claire Simon, ein sehr schöner Ensemblefilm über Beziehung, Familie, Liebe und Vergänglichkeit; zudem auch der frische und strahlende Auftritt der Tessinerin Carla Juri im Adoleszenzdrama «Feuchtgebiete». Festivaldirektor Carlo Chatrian betonte in einem Gespräch mit der ökumenischen Jury, dass er mit seiner Auswahl Grenzen sprengen wollte. So standen Experimentalfilme, Dokumentarfilme und unabhängige Spielfilme nebeneinander und konnten eigentlich nicht direkt verglichen werden.
Das Spektrum war dieses Jahr in Locarno so breit, dass selbst die internationale Jury Mühe hatte, die Spreu vom Weizen zu trennen. Albert Serras Kunstwerk «Historia de la mueva mort», eine sperrige und etwas verrückte Kombination von Casanova-Episoden und Dracula-Auftritten, erhielt den Goldenen Leoparden. Viel mehr überzeugt das filmische Tagebuch des Portugiesen Joaquim Pinto it n «E Agora? Lembra-me». Er erzählt darin von seiner HIV-Infektion und Hepatitis-C-Erkrankung, wie ihn die toxischen Medikamente von innen her aufzehren, wie er seine schwule Liebe und sein Engagement für die Umwelt lebt, und wie er zu überleben versucht, auch wenn die Wälder und sein Körper brennen. Das ist hochstehendes Autorenkino, das in Locarno mit einem Silbernen Leoparden ausgezeichnet wurde.
Ein Höhepunkt des 66. Filmfestivals Locarno war die Präsenz von Werner Herzog. Er gab eine vielbeachtete Masterclass, in der er vor allem auch auf sein Dokumentarfilmschaffen einging. Das Festival präsentierte in diesem Zusammenhang vier Episoden aus der TV-Serie «On Death Row», die sich mit Zum-Tode-Verurteilten auseinandersetzt. Mit dem Ehrenleopard für Herzog wurde auf der Piazza Grande auch eine unvergessliche Mitternachtsvorführung von «Fitzcarraldo» (1982) aufgeführt: dem Traum einer Oper inmitten des Amazonas-Urwalds.