Durchdringung des Persönlichen und des Politischen
Ithaka
Dass die Welt ist in keinem guten Zustand ist, wusste man eigentlich schon. Und doch ist es erschreckend zu sehen, wie dramatisch die Verhältnisse tatsächlich sind. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man die Filme, die man auf dem Sheffield Docfest gesehen hat, Revue passieren lässt. Man braucht gute Nerven und ein paar Biere am Abend, damit einem die Bilder auf der Leinwand nicht den Schlaf rauben.
Die Konfrontation mit den filmischen Impressionen kann aber auch eine heilsame und ernüchternde Erfahrung sein. Keine Illusionen! So könnte das Motto des diesjährigen Dokumentarfestivals von Sheffield lauten.
Neben einem Wettbewerb gab es zahlreiche parallele Reihen, die nach zwei Jahren Corona-Einschränkungen wieder ein spannendes Programm anboten. Aktueller Höhepunkt war „Ithaka“ von Ben Lawrence, ein aufwühlender Film, der das Schicksal des Wikileaks-Gründers Julian Assange zeigt. Kein Geringerer als Brian Eno hat die ebenso sparsam wie effektvoll eingesetzte Musik beigesteuert.
Eine der Protagonisten ist Stella Morris, die ursprünglich seine Anwältin war und später seine Frau wurde und mit der er zwei Kinder hat. Der andere ist sein 76jähriger Vater John Shipton, der mit großem Engagement für die Freilassung seines Sohnes kämpft. Beide waren nach Sheffield gekommen, um den Film persönlich vorzustellen. „Ithaka“ dokumentiert ihren Kampf aus einem intimen Blickwinkel. Man kommt der Familie sehr nahe, was wohl auch daran liegt, dass Julians Bruder Gabriel als Produzent fungiert.
Der Film rekapituliert die Zeit, die Julian Assange im Asyl der ecuadorianischen Botschaft verbrachte, wo er, wie man heute weiß, systematisch überwacht und abgehört wurde. Später seine Inhaftierung im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, wo sich sein Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert. Es ist bewegend mitzuerleben, wie sein Vater und seine Frau sich auf die Anhörungen vor dem Londoner High Court vorbereiten und die Öffentlichkeit mobilisieren, um die drohende Auslieferung in die USA zu verhindern, wo ihm eine Haftstrafe von 175 Jahren droht. Wer meint, alles über den Fall von Julian Assange zu wissen, wird durch den Film eines Besseren belehrt.
John Shipton, der während Julians Kindheit lange Zeit keinen Kontakt zu seinem Sohn hatte, ist ein grauhaariger australischer Gentleman, der leise spricht und auf sympathische Art uneitel wirkt. Er wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass hier auf juristisch dubiose Weise Anklage und Inhaftierung konstruiert werden, um vom eigentlichen Gegenstand, den amerikanischen Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan, abzulenken. Es wird deutlich, dass an Julian Assange ein Exempel statuiert werden soll, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken, die versuchen, Staatsverbrechen aufzudecken. Assanges Fall ist ein frontaler Angriff auf die Meinungsfreiheit mit unabsehbaren Folgen.
Es war eindrucksvoll, mit Stella Morris und John Shipton nach der Vorführung persönlich ins Gespräch zu kommen. Bezeichnend für die ungezwungene Atmosphäre des Festivals.
Persönlich und zugleich politisch angelegt war auch „Four Journeys“ (Vier Reisen) des jungen Chinesen Louis Hothothot. Der Autor, der seit fünf Jahren in den Niederlanden lebt, wurde 1986 geboren, als in China die Ein-Kind-Politik staatliche Norm war. Seine Existenz als zweites Kind wurde zu einer enormen Belastung für die Familie und kostete seinen Vater eine vielversprechende politische Karriere.
Louis reist nach China, um seine Eltern und seine Schwester zu besuchen. Niemand ist bereit, über die Wunden der Vergangenheit zu sprechen. Ein Foto, aufgenommen auf dem Tiananmen-Platz, wird zum Schlüssel für die Reise in die Vergangenheit. Louis entdeckt, dass er einen älteren Bruder hat, der zwei Jahre nach der Geburt ums Leben kam. Über diese Tragödie hat man in der Familie immer geschwiegen.
Hinter dem persönlichen Schicksal scheinen auch die politischen Traumata der Vergangenheit auf, der Maoismus und die Kulturrevolution, die ähnlich tabubesetzt sind. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an diese Zeit von Armut und Angst, um offen darüber zu sprechen.
Mit Hilfe der Kamera gelingt es Louis, einen Dialog mit seinen Eltern und der Schwester in Gang zu bringen. Ganz unsentimental und manchmal begleitet von überraschendem Humor. Später besucht ihn seine Familie in den Niederlanden, lernt seine Freundin und deren Eltern kennen. Allmählich kommen sich der verlorene Sohn und die Eltern näher. Bei einem Fest auf dem Land, söhnt sich der Vater mit seinen Brüdern aus und die Familie überwindet die Gräben aus Ressentiment und Misstrauen, die so viel zerstört haben.
Der Situation in der Ukraine war eine eigene Filmreihe gewidmet. Ganz aktuell zeigt „Overcoming the Darkness“ (Die Dunkelheit überwinden), ein Kompendium von Kurzfilmen, die Folgen des russischen Angriffskriegs. Familien, die in einer Metrostation Zuflucht gefunden haben, einen Videoamateur, der die Zerstörungen in seinem Wohnblock dokumentiert; Menschen, die versuchen, aus den umkämpften Gebieten zu fliehen. Die Aufnahmen zeigen den Alltag des Kriegs, der geprägt ist von Bombardierungen, Angst und ständiger Improvisation, um irgendwie zu überleben. Der Blickwinkel ist ein anderer als in der medialen Berichterstattung, ausführlicher und näher an den Menschen. Auf besondere Weise beklemmend ist der letzte Kurzfilm, der eine Siedlung mit modernen, eleganten Häusern außerhalb von Kyjiw zeigt, die auch irgendwo in Westeuropa stehen könnte. Wir sehen die Siedlung, bevor sie von russischen Truppen besetzt wurde, und wie sie nach deren Abzug aussieht. Zerschossene Häuser und geplünderte Wohnungen, willkürliche Zerstörungen ohne jedes militärische Ziel.
Wie sieht eine Stadt nach dem Krieg aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der libanesische Filmemacher Nadim Mishlawi, der in „After the End of the World” (Nach dem Ende der Welt) die Veränderungen der Stadtlandschaft von Beirut nach 15 Jahren Bürgerkrieg untersucht. Alte Gebäude und Straßen sind zerstört oder im Wiederaufbau abgerissen worden, die ehemalige Struktur der Stadt ist kaum wiederzuerkennen. In kühlen Bildern dokumentiert Mishlawi, der einige Jahre im Exil gelebt hat, wie fremd ihm die eigene Stadt geworden ist. Der Regisseur ist von Hause aus Sounddesigner und Komponist, sein Film ist angelegt als ein intellektuelles Designprojekt, das manchmal sehr abstrakt wirkt. Erst am Ende verweisen Bilder auf die größte Katastrophe der letzten Jahre, die Explosion im Hafen von Beirut, bei der über 200 Menschen ums Leben kamen.
Das Sheffield Docfest ist keine Veranstaltung für Puristen des Dokumentarfilms, sondern offen für ein breites Publikum. Diesen Anspruch unterstrich nicht zuletzt der Eröffnungsfilm, Brett Morgens David-Bowie-Portrait „Moonage Daydream“ (Mondzeit Tagtraum). Morgen schöpft aus einem reichen Fundus an Bildmaterial. Bowie über Bowie könnte der Film auch heißen. Wir sehen seine Auftritte, Selbstinszenierungen und Aufnahmen einer Reise durch Ostasien im Umfeld der Dreharbeiten zu Nagisa Oshimas „Merry Christmas, Mr. Lawrence“. Im Mittelpunkt steht Bowies unvergleichliche Bühnenpräsenz. Seine Musik ist in maximaler Laustärke abgemischt, so dass man vorsichtshalber Ohrstöpsel an das Publikum ausgab.
Brett Morgen zeigt David Bowie als einen Künstler, der auf der Suche ist nach dem Sinn seiner Existenz und seinem Platz im Universum, der über die eigene Sterblichkeit nachdenkt und sich konsequent als Kunstfigur inszeniert. Private und biographische Details sind sparsam eingefügt, die Beziehung zu seinem älteren Halbbruder Terry, der mit einer Schizophrenie-Diagnose in der Psychiatrie endet, der abwesende Vater und die distanzierte Mutter bleiben eher schemenhaft. Der Film bewegt sich konsequent in Bowies Universum, wir erfahren nur, was er bereit ist über sich preiszugeben. Angesichts einer Länge von mehr als zwei Stunden wünscht man sich manchmal einen Blick von außen.
In krassem Gegensatz zur Opulenz des Bowie-Films steht Mirissa Neffs rauher Debütfilm „This Is National Wake“ (Das ist National Wake). Er nimmt uns mit auf eine Zeitreise in das südafrikanische Apartheid Regime. National Wake war eine wilde Punkband am Ende der 1970er Jahre, die erste, in der weiße und schwarze Musiker zusammenspielten. Ivan Kadey, ein weißer Gitarrist aus Johannesburg, und die Brüder Gary und Punka Khoza aus Soweto.
Mit Hilfe von alten Super8-Aufnahmen tauchen wir in die Counter Culture Südafrikas ein, zu einer Zeit, als dort noch strikte Rassentrennung herrschte. Damals war die gemischte Zusammensetzung der Band und ihre rebellische Haltung gegenüber dem Regime eine maximale Provokation, die bald die Behörden auf den Plan rief. Gerade als die Band dabei ist, durchzustarten, wird die Plattenfirma unter Druck gesetzt und ihr erstes Album verboten. Die Band löst sich auf und jeder geht seiner Wege. Die beiden schwarzen Musiker sterben relativ jung, Ivan Kadey etabliert sich als Architekt in den USA. 40 Jahre später lässt er in einem Revival-Konzert die Erinnerung an National Wake wiederaufleben, an eine Band, die ihrer Zeit voraus war. Sogar das Album von damals wird wieder aufgelegt.
Das Sheffield Docfest bot nicht nur ein breites Spektrum an aktuellen Dokumentarfilmen bis hin zu experimentellen Formen wie aufwändigen Virtual-Reality-Installationen, sondern fungiert auch als Treffpunkt für Filmemacher, Produzenten, Verleiher und Redakteure. Ein Ort, wo man sich in entspannter Atmosphäre über neue Projekte austauscht. Diese bunte Mischung macht die Lebendigkeit und besondere Qualität von Sheffield aus.