Ein Festival zu Kriegszeiten
Eröffnungsfilm in Cannes: "Coupez!"
In Cannes feiert man nach Corona die Rückkehr zur Normalität, das Festival findet wieder am traditionellen Termin im Mai statt. Auf dem Roten Teppich geht es so glamourös zu wie in alten Zeiten. Zugleich liegt ein Gefühl der Verunsicherung in der Luft. Denn was heißt schon Normalität, wenn das Kino gefeiert und im Osten Europas Krieg geführt wird? Es war überraschend, aber auch naheliegend, dass bei der Eröffnung der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zugeschaltet wurde, der in einer Videoansprache zur Solidarität gegen die russische Aggression aufrief und an Charlie Chaplins „Der große Diktator“ als eine Waffe im Kampf gegen Hitler und andere Diktatoren des 20. Jahrhunderts erinnerte. Es ist zu erwarten, dass auch im weiteren Verlauf des Festivals der Krieg in der Ukraine auf vielfältige Weise präsent sein wird.
Ehrengast des Eröffnungsabends war der amerikanische Schauspieler Forest Whitaker, der mit einer Goldenen Palme für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Sichtlich bewegt erinnerte er daran wie er auf dem Festival 1988 für seine Interpretation der Jazzlegende Charlie Parker in Clint Eastwoods Film „Bird“ mit dem Preis als bester Darsteller ausgezeichnet wurde.
Doch der heimliche Star war der französische Schauspieler Vincent Lindon, der in diesem Jahr als Vorsitzender der internationalen Jury fungiert. Im vergangenen Jahr war er einer der Hauptdarsteller im überraschenden Siegerfilm „Titane“. In seiner Begrüßungsansprache charakterisierte Lindon das Kinos als einen Ort, das denjenigen eine Stimme geben kann, die sonst nicht gehört werden.
Der Eröffnungsfilm „Coupez!“ (Cut!) von Michel Hazanavicius war danach eher leichte Kost. „Coupez!“ ist das Remake eines japanischen Kult-Zombiefilms, „One Cut of the Dead“. Ein Filmteam dreht in einem verlassenen Gebäude einen Zombiefilms, auf einmal werden die Akteure selbst zu „echten“ Zombies. Hazanavicius schwelgt im Trash-Look eines B-Movies, spart weder an künstlichem Blut noch an Horroreffekten und liefert in demonstrativer Übertreibung eine Parodie auf das Genre. Das ist mehr zum Lachen als zum Fürchten gedacht.
In den ersten 30 Minuten sehen wir besagten Zombiefilm, gedreht in einer einzigen Einstellung. Danach springt die Story zurück und wir lernen die Vorgeschichte des Projekts kennen. Man muss Geduld aufbringen bis hierher zu kommen, denn erst dann wird es interessant. Romain Duris spielt einen zweitrangigen französischen Regisseur, der das Angebot bekommt, einen japanischen Zombiefilm zu drehen. Von Beginn an ein absurdes Projekt, das bei den Dreharbeiten völlig aus dem Ruder läuft. Alles, was beim Dreh schief gehen kann, geht auch schief. Der Blick hinter die Kulissen des Filmgeschäfts liefert eine Fülle amüsanter Momente. Hazanavicius liebt Genre-Parodien und spielt mit dem Motiv des Films im Film. In seinem Oscargewinner „The Artist“ ist ihm das perfekt gelungen. Hier wirken manche Gags etwas überstrapaziert, die Figuren bleiben trotz Unmengen künstlichen Bluts eher blass. „Coupez!“ ist vielleicht eher ein Film für Zombie Fans.
Das Thema Ukraine schon am nächsten Tag wieder präsent, als der russische Regisseur Kirill Serebrennikow seinen Film „Zhena Chaikovskogo“ (Tschaikowskis Frau) vorstellte. Dass Serebrennikow persönlich nach Cannes kommen konnte, war schon eine Sensation. Lange Zeit hatte er in Moskau wegen angeblicher Unterschlagung von Fördergeldern unter Hausarrest gestanden und durfte nicht zum Festival an die Côte d’Azur reisen, auch wenn seine Filme im Wettbewerb liefen. Bei der Premiere wurde Serebrennikow mit Standing Ovations gefeiert und nutzte die Gelegenheit, um unzweideutig zu erklären: „Nein zum Krieg! Ja zum Frieden!“. Ein Statement, dass in politischen Kreisen Russlands nicht gut ankommen dürfte.
Aber auch sonst enthält sein Film genug Stoff, um öffentlichen Anstoß zu erregen. Es geht um Tschaikowskis Homosexualität, die im 19. Jahrhundert ein Tabu war, ganz ähnlich wie im homophoben Klima von heute. Im Zentrum steht seine Frau Antonina, auf deren Schicksal sich der Film konzentriert, nachdem ihr Mann sie verlassen hat. Sie verweigert eine Scheidung und hält trotz allem an ihrer Liebe fest in dem verzweifelten Glauben, auch von ihm geliebt zu werden. In einer absurd zugespitzten Szene ziehen sich fünf Männer vor ihr aus, um sie, die sich eigentlich nach einer erfüllten Sexualität mit ihrem Ehemann sehnt, zu demütigen.
Serebrennikow inszeniert den geradezu masochistischen Leidensweg Antoninas als große Oper, unterbrochen von zahlreichen Traumsequenzen, die ihre Wünsche und Ängste illustrieren. Man spürt, dass der Regisseur auch ein Künstler der Bühne ist.