Einsichten in komplexe Lebenswirklichkeiten
Zahlen sind gewiss nicht alles, aber manchmal doch beeindruckend: 1991 begann das Festival in Cottbus mit gerade einmal acht Filmen, in der 25. Ausgabe 2015 waren es nunmehr über 200 Spiel- und Dokumentarfilme unterschiedlichster Formate und Längen in gut einem Dutzend Sektionen, die man vereinzelt auch außerhalb der eingeführten Festivalkinos an renommierten städtischen Orten wie dem Planetarium und dem Dieselkraftwerk dkw sehen konnte. „Es ist ein Traum, was daraus geworden ist“, betonte der nicht mehr ganz so neue Programmdirektor Bernd Buder zum Jubiläum zu Recht. Charakteristisch für das Festival, das bei alledem seine Bodenhaftung nicht verloren hat, ist eine in Jahrzehnten gewachsene große filmfachliche Ost- und Mitteleuropa-Kompetenz inkl. einschlägiger Vernetzungen ebenso wie die sehr angenehme familiäre Atmosphäre, die nicht nur von eingeschworenen Liebhabern des Films aus dem Osten Europas, sondern zunehmend auch von jüngeren, multiperspektivisch interessierten Publikumsschichten geprägt wird. Anlass, in eigener Sache zu feiern, gab es anno 2015 also durchaus, in Cottbus tat man es mit gewohntem Understatement, ohne Glanz und Gloria.
Gründe, wirklich ausgelassen zu feiern, gab und gibt es mit Blick auf schreckliche Kriegsgeschehnisse, die politische und wirtschaftliche Lage, die Hunderttausende von Menschen nach Europa ziehen lässt, angesichts der Nachrichtenbilder vom Balkan über drakonische Maßnahmen gegen Schutzsuchende und der gerade in Ost- und Mitteleuropa weit verbreiteten Weigerung, Flüchtende aufzunehmen, ja eigentlich auch gar nicht. Das Festival offerierte mit einzelnen Filmen und Sonderprogrammen vielmehr Augen öffnende Einblicke hinter die Schematismen der festgefügten Nachrichtenbilder – und vermochte hier immer wieder für die ungleich komplexeren Lebenswirklichkeiten Einzelner zu sensibilisieren.
So konnte man außerhalb des Wettbewerbs im serbischen Dokumentarfilm Logbook_Serbistan (Destination_Serbistan) vom diesjährigen Mitglied der Internationalen Festivaljury Želimir Žilnik (2015 fertiggestellt, bevor die sogen. Balkanroute die Schlagzeilen beherrschte!) einzelne Immigranten aus dem Nahen Osten und Afrika auf ihrem keineswegs nur traurig-tragischen, sondern zuweilen auch absurd-heiteren Weg durch die serbischen Dörfer begleiten und dabei das ungewöhnliche Zusammentreffen der Kulturen aus erfrischend anderem Blickwinkel beobachten: eine perspektivisch überraschende, ebenso persönliche wie pointierte, dabei durchaus unterhaltsame dokumentarfilmische Annäherung an ein massenmedial überdeterminiertes Thema.
Im erfrischenden Kontrast zu weit verbreiteten Klischeevorstellungen gewährte das Festival-Special zum Thema „Islam in Osteuropa“ Einblicke in einen Islam, der zum Beispiel im Kaukasus nicht nur das religiöse Leben, sondern auch Kultur und Alltag stark prägt. Der Kurzfilm The Strongwoman (Siłaczka) von Kacper Czubak/Iwona Kaliszewska (Polen/Russland 2014) porträtiert eine Kopftuch tragende, gläubige Judo-Lehrerin in einem Bergdorf Dagestans, die sich unbeeindruckt von patriarchalen Hierarchien im Ort zu behaupten weiß. INTERFILM-Präsidentin Julia Helmke nahm diesen Film mit seiner beeindruckenden Muslima-Protagonistin als Ausgangspunkt für ihre Meditation beim traditionellen Empfang der Cottbuser Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen gemeinsam mit dem Filmfestival in der Oberkirche. Angesichts The Strongwoman und weiterer Filme der Sektion, die zeigten, dass und wie Islam mit einem selbstbewussten Rollenverständnis von Frauen zusammengehen kann, stellt sich umso mehr die Frage, ob man vor „der Islamisierung des Abendlandes“ in einer Weise Angst haben und schüren muss, wie es während des Festivals einige Hundert Demonstranten auf dem Cottbuser Altmarkt propagierten.
Die zwölf (Spielfilm-)Beiträge des diesjährigen Wettbewerbs exponierten bei allen Unterschieden in Genres und Formaten in der Mehrzahl Erzählungen von Familien und Paaren: family affairs vom Balkan, aus Mittel- und Osteuropa – oft tragische Geschichten von sich trennenden, verfeindeten und anderweitig bedrohten Familien und Paaren, aber ebenso Erzählungen von sich annähernden und findenden. Freilich konnte auch hier das Thema Krieg mit seinen langfristigen Folgewirkungen nicht außen vor bleiben. Abgesehen von einigen wenigen „Ausrutschern“ erwies sich das Wettbewerbsprogramm als erfreulich anspruchsvoll, drei Filme ragten mehr oder weniger heraus und wurden von der Ökumenischen Jury in die engere Auswahl genommen. Es zeugt von der derzeitigen Stärke der „Neuen kroatischen Welle“ (und dem Selektionsspürsinn des Festivals), dass zwei dieser Filme aus Kroatien kommen.
In Mittagssonne (Zvizdan) von Dalibor Matanić (Kroatien/Slowenien/Serbien 2015), dem vergleichsweise aufwändig produzierten, von der Inszenierung wie den Sehgewohnheiten her sicher kinogängigsten, zuvor bereits beim Festival in Cannes in der Reihe „Un certain regard“ und nun auch in Cottbus zu Recht mit Preisen überhäuften Film des Wettbewerbs (Hauptpreis, Preis für Hauptdarstellerin und Fipresci-Preis), sehen wir drei jeweils vom gleichen Darstellerpaar überzeugend verkörperte, glaubwürdig erzählte Liebesgeschichten zwischen einer Serbin und einem Kroaten – wobei der Regisseur die episodisch erzählten und kunstvoll miteinander verbundenen Geschichten im selben Dorf ansiedelt und den Film mit jeder Geschichte von 1991 bis 2011 dekadenweise nach vorn springen lässt. Dreh- und Angelpunkt des Films bildet die Darstellung des visuell subtil erfahrbaren mörderischen Hasses und des behutsamen Sichtbarmachens schwärender Wunden zwischen Kroaten und Serben, die nur schwer heilen wollen – auch wenn die Animositäten im weiteren Verlauf der Episoden peu à peu abnehmen, es zur Annäherung kommt und der Krieg im abschließenden Teil prima facie gar keine Rolle mehr zu spielen scheint. Nach den verletzenden Erfahrungen von Krieg und Hass vermag Liebe eben nicht umstandslos wiederzukehren. Im letzten Bild öffnet eine kroatische Mutter dem serbischen Vater ihres Kindes, der sie zu Kriegszeiten einst im Stich ließ, äußerst skeptisch und nur zögerlich die Tür.
Angesiedelt in prekären, von Deklassierung bedrohten Milieus am Rand der Großstadt erzählt Lili Horváths Debütfilm Mittwochskind (Szerdai Gyerek) (Ungarn/Deutschland 2015) eine über weite Strecken authentisch wirkende Geschichte von unten – mit einer neunzehnjährigen Mutter als Protagonistin, die beherzt um das Sorgerecht ihres kleinen Sohnes im Heim und um eine wirtschaftliche Chance für sich kämpft. Immer, wenn sich ihr über Hilfsprogramme und Existenzgründungsprojekte Wege eröffnen, auf ehrliche Weise voranzukommen, um auf eigenen Füßen zu stehen und ihr Kind eines Tages zu sich nehmen zu können, kommt ihr der Kindsvater und Partner mit seinen kleinkriminellen Machenschaften in die Quere; brutal wird sie plötzlich von der gemeinsamen Vergangenheit eingeholt. Für einen Debütfilm ist Mittwochskind beachtlich stilsicher in der Tradition des ungarischen Kinos des Sozialen inszeniert, weshalb sich der Film den Spezialpreis für die beste Regie durchaus verdient hat, allerdings mit einer kleinen Einschränkung: So überzeugend die Hauptdarstellerin ihre ungestüme Wut, ihren unbedingten Durchsetzungswillen, aber auch ihre große Verletzlichkeit zu verkörpern versteht, so sehr sind Drehbuch wie Inszenierung am Ende doch nicht ganz gefeit davor, sich ein wenig zu verheddern und klischeehaft zu pointieren.
Die Ökumenische Jury vergab ihren Preis schließlich an Sauerkirschen (Imena Višnje) von Branko Schmidt, dem zweiten kroatischen Beitrag im Wettbewerbsprogramm. Weniger konventionellen Sehgewohnheiten und geschmeidigem Storytelling entsprechend als Mittagssonne, mit seinen beiden Hauptfiguren im Zentrum kammerspielartig aufs Existenziell-Wesentliche verdichtet, erfasst die Filmgeschichte mit dokumentarisch genauem, ruhigem Blick Gesten und Regungen eines alten Paares, das nach dem Krieg in seine karge dörfliche Umgebung zurückkehrt, um den beschwerlichen Alltag zu meistern. Intellektuell wie emotional hat die Jury-Mitglieder an Branko Schmidts Inszenierung vor allem überzeugt, wie sie hinter der patriarchalen Sturheit des Mannes etwas von der Sorge und Liebe für seine Frau sichtbar werden lässt, deren Demenz langsam fortschreitet. Im Unterschied zu einer Reihe neuerer Filme zum Thema Liebe und Demenz im westlichen Kino exponiert Sauerkirschen kein gutbürgerliches Paar mit dramaturgisch entsprechend ergiebiger Fallhöhe, sondern schnörkellose Protagonisten bäuerlich-ländlicher Provenienz. Um die existenzielle Dimension des Sujets fassbar erscheinen zu lassen und von der conditio humana glaubwürdig erzählen zu können, erübrigen sich manchmal probate Effekte und große Gesten des Kinos.