Keine Qual der Wahl, aber ein Dilemma: Gleich zu Beginn der 58. Internationalen Filmfestspiele Mannheim-Heidelberg (IFFMH), das sich auf die ersten bis dritten Spielfilme junger Regisseure und Regisseurinnen spezialisiert hat, erlebte die Ökumenische Jury ein Kunstwerk ersten Ranges - den finnischen Wettbewerbsbeitrag "Postia Pappi Jaakobille (Post für Pastor Jakob)" von Klaus Härö. Der Film hatte allerdings, wie sich herausstellte, unmittelbar zuvor bei den 51. Nordischen Filmtagen Lübeck den INTERFILM-Preis erhalten. Das wäre formal kein Hinderungsgrund für die katholischen und evangelischen Juroren aus Deutschland und der Schweiz gewesen, sich gleichfalls dafür zu entscheiden. Aber es missfiel ihnen, dass hier und da Kollegen bereits zu verstehen gaben, die Wahl sei damit für die "Kirchenjury" doch längst gelaufen.
Tatsächlich wurde die in ruhigen, sehr eindrucksvollen Bildern vorgetragene Geschichte des alten blinden Pfarrers, der sich von einer entlassenen Mörderin Gebets-Bittbriefe vorlesen lässt und dabei ihr zu Stein erstarrtes Herz erweicht, mit dem Großen Preis von Mannheim geehrt - ein Film, der auf eine so überzeugende Weise von einer (durchaus nicht unangefochtenen) Gläubigkeit erfüllt ist, wie das seit Jahrzehnten nicht mehr bei Festivals zu sehen war.
Erst kurz vor Schluss bekam die Jury den Spielfilm-Erstling "Coeur animal" der Schweizerin Severine Cornamusaz zu Gesicht, das zweite Meisterwerk, das sie überzeugte. Und nicht nur sie. Auch die internationale Kritikerjury der FIPRESCI, die vor allem innovativ herausragende Werke prämiert, gab diesem Film den Vorzug, und die Festivaljury bedachte ihn mit einer Lobenden Erwähnung. "In der archaischen Natur der kargen Schweizer Bergwelt wird der Beginn eines fragilen Menschwerdungsprozesses sichtbar", erklärte die Ökumenische Jury in ihrer Begründung und rühmte die "künstlerische Leistung von universeller Geltung", die "nuancierte Darstellung der Charaktere in ihrer Körperlichkeit" und den "virtuosen Einsatz filmsprachlicher Mittel".
Auch im Milchbauern Paul, der mit seinen Tieren menschlicher umgeht als mit Rosine, seiner Frau, schlägt ein Herz aus Stein. Ein Hauch von Rücksichtnahme überkommt ihn, als er sie schwanger wähnt, doch der vergeht, als ihm ein Saisonarbeiter ins Haus schneit, mit dem er sich nur mühsam arrangiert. Erst als die in Wahrheit krebskranke Bäuerin aus dem Krankenhaus nicht mehr zurückkehrt, setzt ein Umdenken ein. Der Fremde, dessen eigene Ehe in der Ferne gescheitert ist, erweist sich als Freund. Für eine Versöhnung mit Rosine scheint es jedoch zu spät zu sein. Erst in der letzten Auseinandersetzung der beiden taucht ein Schimmer von Hoffnung für diese schwierige Ehe auf.
Das vage Happy End ließe an die üblichen Erfahrungen denken, nach denen misshandelte Frauen am Ende doch wieder zu ihrem Peiniger zurückkehren, wäre da nicht die Filmwidmung: Die Regisseurin erinnert an ihre inzwischen verstorbene Großmutter Rosine. Zugleich hat sie alle üblichen Klischees vermieden, die solche Geschichten begleiten. Die Bäuerin hat kein Verhältnis mit dem Fremden, die adrette Gasthofbedienung tröstet den Bauern nicht, sondern setzt ihm geharnischt den Kopf zurecht. Und der Kampf zwischen den Männern endet mit Verletzungen, aber nicht mit einem Unglück. Zugleich zeigt der Film, wie die FIPRESCI vermerkte, "das andere Gesicht der Schweiz". Der Zuschauer erlebt die harte Arbeit in der Einsamkeit einer mitunter feindlichen Natur, die den Menschen zu schaffen macht, auch wenn sie, wie sich an Rosine zeigt, hier gerne leben.
Parallelen zu anderen Filmen gab es in mancherlei Hinsicht. Vermutlich hat die Festivalleitung, die bei der Auswahl aus über 700 Spielfilmen 17 Wettbewerbsbeiträge sowie unter anderem acht "Internationale Entdeckungen" und sieben "Festivalperlen", also Preisträger anderer Orte, ins Programm nahm, auf inhaltliche Bezüge geachtet. So beobachtet der einzige Dokumentarfilm "Demsala Dawi: Sewaxan (Die letzte Saison: Shawaks)" (Bild unten) kurdische Familien, die als Nomaden jedes Frühjahr mit ihren Schafherden aus der Stadt auf vereisten Pfaden ins Taurus-Hochgebirge ziehen - Männer, die offen zugeben, dass sie ihre "Weiber" schlagen, und Frauen, die sich darüber vor der Kamera kämpferisch beschweren. Ein Jahr lang hat Kazim Öz aus der Türkei mit seinem Team die Menschen auf unwegsamem Gelände begleitet, um "Nachricht von einem Mikrokosmos zu geben, von dem wir Nordeuropäer bisher nichts wussten", wie die Festivaljury bei der Verleihung ihres Spezialpreises konstatierte. Ähnliches gilt für den Libanon-Film mit dem merkwürdigen Titel "Chaque jour est une fête (Jeder Tag ist ein Fest-/Ferientag)", in dem Frauen aus Beirut auf dem Weg zu ihren Männern im Mermel-Gefängnis in der Wüste nach einem Überfall auf ihren Bus auf Stöckelschuhen durch Bürgerkriegsgelände stolpern - ein Film mit beeindruckenden Landschaftsauf-nahmen, jedoch auch seltsam verrätselten Bildern.
Hoffnung war ein rarer Begriff bei den diesjährigen Spielfilmen im Wettbewerb, der sich als "Festival der verlorenen Seelen" überschreiben ließe. Da ging es immer wieder um verwickelte, mitunter zu enge Beziehungen - zwischen Paaren, Eltern und Kindern, immer wieder auch zwischen Geschwistern. Im britischen Beitrag "Running in Traffic" (aus Schottland, wie die Filmemacher öffentlich betonten) begegnen ein Mann und eine Frau einander einige Male unerkannt. Erst am Ende, als sie seelisch wie körperlich tief verletzt vor dem Nichts stehen, tauschen sie ein erstes schwaches Lächeln aus.
Selbst hier ist das Drogenproblem untergemischt, erst recht in Sex-and-Crime-Variationen aus Kolumbien und Argentinien. Zur unnötigen Zutat, die das Geschehen verkompliziert, wird die todbringende Bindung an rachsüchtige Drogendealer in dem optisch sehr ehrgeizig aufgezogenen dänischen Film "Himlen Falder (When Heaven falls)". Eine adoptierte junge Frau kehrt zur Beerdigung ihrer leiblichen Mutter unerkannt in die Familie zurück und entdeckt, dass auch ihre kleinen Schwestern vom Vater und seinen Freunden missbraucht werden. Der einst geliebte Bruder, der drogensüchtig zum Neonazi-Anführer aufgestiegen ist, fällt als Beistand aus. Es irritiert, dass die ältere Schwester, statt die Verbrecher in flagranti erwischen zu lassen, sogar eine Aussprache mit dem Vater sucht. Aber hier wie auch bei der Flucht, der sich eins der Mädchen anfangs verweigert, wird das Trauma mit allen seinen Folgen, wenn man genau hinsieht, wie in einem Lehrbuch ausgebreitet. Vergewaltigung eines autistischen Mädchens und Selbstjustiz durch den Bruder waren auch das Thema des ungarischen Films "Utolso Idök (Lost Times)" von Aron Matyassy mit einer faszinierend authentischen Hauptdarstellerin.
Bei den weiteren Preisen kamen eher die einfacher gestrickten Filme zum Zuge, zumal, wenn sie sich ein Happy End leisten. So erhielt "Miss Kicki" von Hakon Liu aus Schweden den Rainer-Werner-Fassbinder-Preis, die erste Reise einer Mutter (Pernilla August) mit ihrem halbwüchsigen Sohn nach Taiwan, der durch seinen neu gewonnenen Freund in große Schwierigkeiten gerät. Ein spanisches Road-Movie ganz anderer Art schlug die Cinema-Jury ihren Kinokollegen vor: In "Retorno a Hansala (Rückkehr nach Hansala)" von Chus Gutierrez begleitet ein Leichenbestatter eine junge Frau mit dem Sarg ihres Bruders in die marokkanische Heimat und beginnt erst dort zu begreifen, wieviel Not und Leid die Flucht der Söhne hinterlässt, die ertrunken an die Küste Nordspaniens gespült werden - ein Film, der sehr verhalten aufklärt und an Mitgefühl appelliert.
Etwas zu schön und lieb kommt der Publikumsliebling des Festivals daher, der im Kino reüssieren könnte: die kanadische Liebesgeschichte zwischen einer Jamaikanerin und einem schwarzen Boxer, der ihrem Sohn zum zweiten Vater wird: "Nurse.Fighter.Boy" von Charles Officer. Das Sterben seiner geliebten kranken Mutter kann der Zwölfjährige nicht verhindern, mit seinem Glauben an ihren magischen Beistand aber den Schwergewichtler im dramatischen Kampf mit finsteren Gegnern unterstützen und selbst Kraft für sein künftiges Leben sammeln.
Bedauerlicherweise unberücksichtigt blieb ein ungewöhnlicher Film, den die in Australien lebende Regisseurin Granaz Moussavi unter schwierigen Bedingungen im iranischen Untergrund gedreht hat. "My Teheran for Sale" schildert nach den gesammelten Erfahrungen von Freunden sehr berührend die verzweifelten Versuche einer jungen Intellektuellen, den Pressionen in ihrem Land mit Hilfe eines australischen Freundes zu entkommen. Zum Schluss sei noch ein auf andere Weise zeitkritischer Beitrag erwähnt, der die New Yorker Kunstszene auf die Schippe nimmt: In "(Untitled)" (Bild) des Amerikaners Jonathan Parker pendelt eine Galeristin zwischen einem anerkannten Kunstmaler und seinem als Komponist erfolglosen Bruder und verliert am Ende, nach Höhen und Tiefen im Geschäft, alle beide. Ein Film, der satirisch mit grellen Effekten arbeitet, aber die Zuschauer auch für die Qualität von Tönen und Geräuschen sensibilisiert und ganz sicher seinen Weg ins Kino findet.
Bereits im Vorspann verrieten einige der erwähnten Filme eine bemerkenswerte künstlerische Kraft, auch wenn sie sie nicht immer auf Spielfilmlänge durchhalten konnten. IFFMH-Direktor Michael Kötz ist stolz darauf, dass namhafte Regisseure wie Wim Wenders, Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Rainer Werner Fassbinder von Mannheim aus ihre Karriere starteten. Als "Master of Cinema" wurde in diesem Jahr der armenisch-ägyptisch gebürtige Kanadier Atom Egoyan geehrt, Preisträger von 1984 und bereits dreimal von einer Ökumenischen Jury ausgezeichnet. So versäumte Kötz auch nicht, in seinen Reden, die er stets mit philosophischen Exkursen und zeitkritischen Bemerkungen unterfüttert, auf die wichtige Rolle der Kirchen beim Umgang mit Filmen hinzuweisen.
Die Aufmerksamkeit, die INTERFILM und SIGNIS Filmfestspielen im In- und Ausland widmen, wird in Mannheim und Heidelberg durch den großen Publikumsandrang bestätigt. Viele Menschen, auch aus der weiteren Umgebung, nehmen eigens Urlaub, um bei der nach der Berlinale zweitältesten Veranstaltung dieser Art Filme zu erleben und in der Begegnung mit fremden Schicksalen Kenntnisse zu sammeln, die ihnen als Touristen in anderen Ländern nie zugänglich wären. Die Arbeit der kirchlichen Juries trägt einiges dazu bei, dass es nicht bei solchen singulären Gelegenheiten bleibt. Sie hat das Ziel, dass begabte Filmschaffende gefördert werden und herausragende Werke mit ihrer Botschaft den Weg in die Öffentlichkeit finden.