Das Ereignis kann mit einem Superlativ aufwarten, aber nicht nur der Superlativ macht es bemerkenswert. In einem "Festival des Kinos der sowjetischen Unionsrepubliken" zeigt das Kommunale Kino Frankfurt bis zum 17. Dezember vierunddreißig Filme aus der Sowjetunion; es ist dies die bislang umfangreichste Präsentation des sowjetischen Gegenwartskinos in der Bundesrepublik. Alle Filme bis auf vier sind zwischen 1975 und heute entstanden. Nicht nur der Umfang der Veranstaltung ist ungewöhnlich. Neben russischen Filmen aus den Studios von Moskau und Leningrad ist jede der fünfzehn autonomen Republiken der SU mit mindestens einem Bei spiel seines, wie es in der offiziellen Terminologie heißt, „nationalen Filmschaffens“ vertreten. So lässt sich endlich ein Eindruck von der multinationalen Filmkultur des Landes gewinnen. Denn jede der Republiken verfügt über eine eigene Produktionsstätte, hat bereits eine eigen Filmtradition ausgeprägt. Da gibt es das Studio Tallinfilm in Estland, Belarusfilm in Weißrußland, das Studio Alexander Dowshenko in Kiew, Grusiafilm in Tiflis, Studios in Aserbaidshan, Tadshikistan, Usbekistan usf. Allein diese Namen wecken ein unbestimmtes Echo von Fernweh und Erfahrungshunger - Verlockungen, die das Kino, schon immer, einzulösen verspricht.
Noch einige Zahlen: Trotz des Fernsehens geht der Durchschnittsbürger der sowjetischen Statistik sechzehnmal im Jahr ins Kino; vier Milliarden Besucher werden insgesamt gezählt. Allein im Jahr 1980 wurden 273 abendfüllende Spielfilme produziert. Diese Zahl macht deutlich, daß auch dieses 'Festival' nur einen schmalen Ausschnitt der sowjetischen Filmproduktion vorführen kann.
Das Kommunale Kino Frankfurt, das die Auswahl der Filme besorgt hat, hat sich dafür entschieden, sie möglichst im Original mit deutschen Untertiteln zu zeigen. Zum Glück; an den wenigen synchronisierten Filmen lässt sich der Schaden ermessen, der durch diesen Eingriff entsteht. Nicht der Verlust an Authentizität ist dabei das Entscheidende; das kümmert nur Puristen. Störend sind die entstellenden Assoziationen, die der Hallraum der eigenen Sprache erzeugt; sie wollen zu den Bildern nicht mehr passen, Das lässt sich selbst bei größter Sorgfalt nicht vermeiden. Höchste Zeit, dass mit dieser falschen Aufführungskonvention gebrochen wird. Die zusätzliche Mühe des Zuschauens hat sich schnell gelohnt.
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Gibt es ein triftigeres Motiv für den Besuch dieser Filmwochen als pure Neugier? Kommt doch der sowjetische Film im normalen Kinobetrieb kaum vor. Mit einer solch gewöhnlichen Gemütsbewegung wollten sich die Redner bei der feierlichen Eröffnung allerdings nicht begnügen. Es waren ja nicht nur Filme gekommen; sie wurden begleitet von einer sowjetischen Delegation mit einem Minister an der Spitze, um Rang und Bedeutung der Veranstaltung gebührend zu unterstreichen. Da war dann wieder von der vielbeschworenen "gegenseitigen Verständigung" die Rede. Wie leicht geht das von den Lippen, und die Zuhörerköpfe nicken einträchtig mit. Indes bestätigt gerade der offizielle Aufwand, dass solche Verständigungspraxis den Stempel der Ausnahme trägt. So wahr es ist, daß Filme einem breiten Publikum einen direkten Zugang zu den Denk- und Empfindungsweisen eines fremden Volkes eröffnen: auf dem Hintergrund von Fastnichts wollen diese 34 Filme wie freundliche Phantome über einem verödeten Brachland erscheinen. Das wahre Bild gegenseitigen Verständigtseins sieht, fürchte ich, eher so aus: Raketen und Schlangen vor den Läden dort, Raketen und Arbeitslosenschlangen hier. Wahrnehmungsfilter einerseits, Informationssperren andererseits machen 'Verständigung' zum frommen Wunsch, der doch mehr sein will als das - politische Reflexe, bald ausgelöscht von der Leinwandwirklichkeit und doch nie ganz zu verdrängen.
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Wie man hört, erfreuen sich die Komödien des aus Georgien stammenden Regisseurs Georgij Danelija beim sowjetischen Publikum großer Beliebtheit. Seine Helden sind traurige Spaßmacher, redegewandte oder trotzige Verlierer, die sich unfreiwillig in der Rolle des Außenseiters wiederfinden. In "Afonja" (1975) ist es ein Handwerker, ein Klempner; dem Alkohol zugetan, großspurig und sentimental, wegen irgendeiner aufgedonnerten Blondine immer wieder in Raufereien verwickelt. Erfinderisch mogelt er sich durch den hindernisreichen Alltag, mit kleinen, illegalen Zuwendungen lässt er sich seine Reparaturarbeiten vergüten. Ein strenges Ger1cht über einen derartigen "Schmarotzer" wäre eigentlich am Platze. Aber der Film kreidet ihm ernsthaft nur eines an: die Vernachlässigung seiner alten Tante, die ihn, den Verwaisten, auf dem Dorfe aufgezogen bat. Dorthin, in die ländliche Idylle, zieht es ihn wieder zurück. Und der märchenhafte Schluss gesteht ihm sogar ein unverdientes Glück zu: ein Mädchen, das ihn liebt.
Kaum abzusehen, wieviel an sozialer Kritik Danelija in sein Spiel versenkt hat; schon gar nicht, wieviel davon ein sowjetischer Zuschauer empfindet. Wenn man will, kann man darin Anspielungen auf schwerwiegende Probleme der sowjetischen Wirklichkeit entnehmen: mangelnde Arbeitsdisziplin; Alkoholismus; eine unkontrollierte, aus Mangelversorgung entspringende 'schwarze' Ökonomie. Afonja selbst ist einfach zu vital, zu ungebärdig, um sich den von ihm erwarteten Verhaltensschemata zu fügen. Oder läuft die Geschichte darauf hinaus, dass Einer exemplarisch zur Einsicht, zur Raison gebracht wird?
Es fehlt uns der Resonanzboden von Erfahrungen, es fehlt (wie noch oft) die Vertrautheit mit den Lebensumständen der sowjetischen Gesellschaft, um sich hier Klarheit zu verschaffen - Schwierigkeiten mit Filmen aus einem fremden Land. Sie belehren darüber, dass Filme weder allein auf der Leinwand spielen, noch dass sie sich, wie von vielen vertreten, im eigenen Kopf zusammenfügen: sie werden immer erst in sozialer Kommunikation rekonstruiert.
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So willig der neugierige Blick sich ans Detail, an Einzelnes heftet, so wenig gibt er sich damit zufrieden. Er strebt nach Übersicht, will bedeutsam-typische Züge erkennen. Allein durch den (Gedanken-)Sprung, der im Besonderen das Bedeutsame entdeckt, lassen sie sich gewinnen.
An zwei Filmen, "Der Zug hielt an" (1982) und "Valentina" (1981), beide von ungewöhnlicher formaler Konsistenz, treten typische Züge der modernen sowjetischen Kinematografie mit großer Deutlichkeit hervor. Es sind einmal: die Konzentration auf eine moralische Problematik; zum zweiten die Versenkung in subtil nuancierte Gefühlsbewegungen. Eine Konzentration auf die 'Innenwelt' der menschlichen Psyche unter Verzicht auf visuelle Opulenz; historisch eine völlige Abkehr von den pathetischen Bildwelten des revolutionären russischen Films. Das neue sowjetische Kino spricht den Zuschauer als Mitempfindenden, als Zweifler gewissermaßen 'privat' an; nicht als Kollektiv. Nicht Kamera und Schauplatz (wie bei uns), sondern Drehbuch und Schauspieler stehen im Mittelpunkt.
In "Der Zug hielt an" (dem neuesten Film der Reihe) von·Wadim Abdraschitow geht es um die Untersuchung eines Eisenbahnunglücks. Bei einem Zusammenstoß ist der Lokführer eines Schnellzuges ums Leben gekommen; seinem Verhalten ist es zu verdanken, dass Schlimmeres verhütet wurde. Sein Opfer wird unverzüglich zur Heldentat stilisiert, ihm zu Ehren wird ein Gedenkstein errichtet. Bei der Aufklärung des Unfalls stößt der Untersuchungsrichter Ermakov auf eine ganze Kette von (Mit-)Schuldigen, auf einen "Knäuel von Versäumnissen"; "Überall Schlamperei", stellt er erbittert fest. Auch der Gestorbene hätte, eines Defekts der Lokomotive wegen, gar nicht abfahren dürfen. Ermakov will "Heldentaten" wie die seine überflüssig machen; dafür hält er strengere Gesetze notwendig. Sein Gegenspieler ist der Journalist Malinin. Er fragt nach dem Nutzen der Untersuchung, die nur weiteres Unglück stiftet; er hält Ermakov die weniger ehrenwerten Motive seines Handelns: Ehrgeiz, den Wunsch nach beruflichem Aufstieg vor; er geht aus von dem unauflösbaren Widerspruch zwischen papierenen Vorschriften und alltäglicher Praxis, menschliches Fehlverhalten eingeschlossen.
Ein offener Schlagabtausch zwischen unterschiedlichen Moralvorstellungen: pflichtorientiert die eine, pragmatisch, an Bedingungen·und Konsequenzen menschlichen Handelns orientiert die andere. Ein glänzend inszenierter Diskurs nach einem Drehbuch von A. Minadse, mit dem Abdraschitow immer wieder zusammenarbeitet. Nicht dem Sichtbaren gilt ihre Leidenschaft; die strenge Blickführung der Kamera ist ganz der Entwicklung des Problems untergeordnet, sie ist 'analytisch', nicht ästhetisch inspiriert.
In seinem Film "Valentina" hat sich der Regisseur Gleb Panfilow auf den Ablauf eines einzigen Tages und auf einen einzigen Schauplatz beschränkt: die Teestube eines Dorfes irgendwo in der Taiga. Ein theaterhaftes Arrangement, gewiss, zudem auf einem Bühnenstück basierend - verstößt das nicht gegen den Geist des Kinos? Eben als Bruch mit Kinokonventionen als formales Experiment muss man Panfilows Reduktionsverfahren begreifen, als filmische 'minimal art', unter deren mikroskopisch verengtem Blick kleinste psychologische Ausdrucksnuancen sichtbar werden. Aus dem Beziehungsgeflecht von sechs Personen, zu denen wenige Randfiguren hinzutreten, ist die ganze Handlung aufgebaut: ein Netz von Blicken, Worten, Gesten und Bewegungen, das eine Gruppe von Gescheiterten verknüpft. Nur die junge Valentina, ein mädchenhaft reines Wesen, scheint noch Grund zur Hoffnung zu haben; immer wieder flickt sie geduldig den Zaun des Vorgartens, den die Teestubengäste regelmäßig niedertrampeln, eine symbolische Geste beharrlichen "Heilens", ein stummer Protest. gegen gedankenlose Zerstörung. Der Schluss stürzt auch sie in die Katastrophe: vergewaltigt, um ihre Hoffnungen betrogen willigt sie in die Ehe mit einem ungeliebten Mann.
Ein intensives psychologisches Kammerspiel, dessen elegischer Grundzug durch komische Glanzlichter aufgehellt wird: "Wenn Sie mehr Zeitung lesen würden, wären Sie nicht so pessimistisch", heißt es einmal mit abgründigem Witz. Die Charaktere des Films, auch die Provinzialität des Schauplatzes gemahnen an Tschechow. Das ist schnell als Traditionalismus oder Nostalgie missverstanden, als vager Rekurs auf die schwermütige "russische Seele". In Wahrheit hatte ja Tschechow immer wieder die Diskrepanz zwischen dem seelischen Reichtum seiner Gestalten und ihren Lebensmöglichkeiten bloßgelegt. In der Provinz fand er den Zustand der russischen Gesellschaft unverhüllt. Auch Panfilow will keine traurige hinterwäldlerische Idylle malen. Er hat Tschechows Einsichten neu entdeckt: Daß unter der modernen Maskierung, die das abgeschiedene Taigadorf noch nicht erreicht hat, das Unglück der Menschen das gleiche geblieben ist. Daher der Eindruck der Zeitlosigkeit trotz der für die Filmhandlung genannten Jahreszahl: 1970.
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Zeitgeschichtliche Filme, vor allem über die Zeit der Revolution und des Zweiten Weltkriegs, erfreuen sich in der Sowjetunion besonderer Wertschätzung. Sie vor allem haben wohl das Vorurteil genährt, das sowjetische Kino habe nach Eisenstein nur stalinistisch gefärbten Monumentalkitsch hervorgebracht, Tarkowskij ausgenommen. Dies Vorurteil müssen die jetzt zu sehenden Filme nachhaltig erschüttern. Drei von ihnen mit zeitgeschichtlichen Sujets sind besonderer Beachtung wert.
Im Zweiten Weltkrieg, dem "Großen Vaterländischen Krieg", wie er in der Sowjetunion genannt wird, spielt "Aufstieg'' (1976) von Larissa Schepitko. Nicht der Heroismus des Kampfes, sondern das Pathos des Leidens prägt seine Bildsprache. Er handelt vom Schicksal zweier Partisanen; der eine wächst, in einer qualvollen Passion, zu einer Christusikone; der andere wird zum Verräter - und zerbricht an seiner Gewissensnot. Zwar verurteilt ihn der Film, gibt ihn aber dennoch nicht der Verachtung preis; auch für diese Judasfigur findet er noch Erbarmen. Mit dem Verlust der Selbstachtung, ja mit Selbstverlust, ein bloßes angstgeschütteltes Bündel, scheint er genug gestraft. Übrigens sind "Aufstieg" und der litauische Film "Das Faktum'' (1981) - ein Protokoll der Zerstörung eines litauischen Dorfes und der Ermordung seiner Bewohner - die einzigen Filme, die sich mit dem Thema Krieg beschäftigen.
Der estnische Film "Ein Nest im Wind" (1979) vom Olev Neuland besticht durch seine atmosphärische Dichte, durch die fast greifbare· Präsenz von Feuchtigkeit und Kälte, von Regen, Schlamm, Nebel und Schnee. Der Titel meint ein einsam gelegenes Gehöft mitten in den estnischen Wäldern, in dem nach Vertreibung der deutschen Truppen, nach Beendigung des Krieges, noch Gruppen von nationalistischen Desperados ihr Wesen treiben. Zwischen dem Terror dieser Banden und den Loyalitätsforderungen der gerade erst etablierten kommunistischen Staatsmacht versucht sich der Bauer Pijr zu behaupten, ein Konflikt, der ihn um die mühsam errungenen Früchte seines täglichen Existenzkampfes zu bringen droht. Die eindringliche Schilderung bäuerlichen Daseins in einer unwirtlichen Natur durchdringt sich mit der historisch-politischen Problemstellung, der unausweichlichen Entscheidung zwischen feindlichen Fronten. Die Spezifik der Bilder, entwickelt aus dem Rückgriff auf eine unverwechselbare nationale Thematik, hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck.
Dies Urteil trifft auch auf "Tryptichon" (1979) zu, eine Produktion aus Usbekistan unter der Regie von Ali Chamrajew. Drei Frauen im Spannungsfeld ·zwischen Tradition und Aufbruch in die Moderne, kurz nach Beendigung des Krieges. Obwohl er diese zentralasiatische Republik nicht unmittelbar betroffen hat, sind seine Spuren unübersehbar; im allgegenwärtigen Versorgungsmangel, in den Kriegsverletzungen der Männer, in den Problemen und Hoffnungen einer beginnenden Aufbauphase, die auch die herkömmliche Rollenverteilung von Mann und Frau ins Wanken bringt.
Zwischen einer alten Bäuerin, ganz Dienerin ihres Gatten, und einer städtisch-modernen Intellektuellen, in der Verwaltung tätig, steht die junge Chalima. Von ihrem Mann im Stich gelassen, muss sie allein für sich und ihr Kind sorgen. Anfangs zögernd, dann immer selbstbewusster ergreift sie die Initiative, entwickelt einen Eigenwillen, der den Männern, auch den aufgeschlossen-'progressiven', bald nicht mehr geheuer ist. Ist ihre Autorität doch erheblich beschädigt: sei es, dass sie den in Aussicht gestellten Aufbau eines Nähkombinats, einer unabhängigen Einkommensquelle für Frauen, nicht zustande bringen; sei es, dass sie in blumigen Episteln ein zwar poetisches, aber hoffnungslos realitätsfernes Frauenbild offenbaren; oder gar sich als schlichte Versager entpuppen. Erst der harmonistische Schluss lenkt ins Versöhnliche zurück. Nicht nur die Schärfe und Genauigkeit der Beobachtung, auch die meisterhafte Behandlung des Breitwandformats, die jede der Figuren in ihren Lebens-Raum einzubetten versteht, kennzeichnen den Rang dieses usbekischen Films.
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Einige kurze Bemerkungen müssen genügen, um die Spannweite der ganzen Veranstaltung anzudeuten. Eine Reihe von schlichten Genrefilmen, etwa eine Spionagegeschichte ("Der Transsibirien-Express", 1977), ein abenteuerlicher Revolutionskrimi ("Liebe und Zorn'', 1978) Melodramen ("Das habt ihr euch nicht träumen lassen", 1980) spiegeln das Unterhaltungsbedürfnis des sowjetischen Publikums. Sie erweitern das Spektrum der Filmwochen, haben – neben ihrer Zerstreuungsfunktion - mindestens informativen Wert. Dabei kann sich, in Verbindung mit volkstümlicher Überlieferung und unterfüttert mit Sozialkritik am vorrevolutionären Russland, auch-ein reizvoller poetischer Horrorfilm wie "König Stachs wilde Jagd" (1979) ergeben, dessen erfindungsreich ausgesponnene Fabel an die frühen Spukgeschichten Gogols erinnert.
Die Errichtung nationaler Filmstudios in den einzelnen Republiken hat die Ausdrucksmöglichkeiten des sowjetischen Kinos vervielfältigt. Bei allem politischen Zentralismus sind die kulturellen Differenzen keineswegs nivelliert; deren Bewahrung schafft vielmehr der eingeschränkten politischen Autonomie ein Ventil. Die Vielgestaltigkeit der Landschaften, die Eigenart von Kleidung und Gesichtszügen, die Besonderheiten der Lebensweise kommen zumindest dem Abwechslungsreichtum der Filme zugute. Dabei spannt sich der Bogen von unsäglicher, operettenhafter Folklore bis zur sorgfältigen, fast schon ethnographischen Beobachtung, in der Schilderung nomadischen Hirtenlebens in "Der graue Wolf" (1974) zum Beispiel, der allerdings durch die Wahl eines kindlichen Helden und einen gelegentlichen Ausrutscher in den Tierfilm an Schärfe verliert.
Eine stattliche Anzahl von Filmen beschäftigt sich mit Frauenproblemen; sie würden eine eigene Betrachtung rechtfertigen. Oft werden Frauen in die Rolle der Leidenden, der Dulderin gedrängt, der nichts anderes als der Appell um männliche Anerkennung übrigbleibt. Das ist in dieser Form gewiss eine grobe Vereinfachung. Denn selbst als Abhängige bewahren sie noch eine bemerkenswerte Kraft, ja vielleicht sogar Überlegenheit; man erinnere sich an "Valentina". Das auffälligste Gegenbeispiel ist Lana Gogoberidses "Einige Interviews zu persönlichen Fragen" (1978), die das Bild einer modernen, emanzipierten Frau zeichnet, erfolgreich im Beruf, dominant in ihrer Familie, eine selbstbewusste Journalistin. Eine Ehekrise veranlasst sie zu einer kritischen Überprüfung ihrer Rolle; mit dem Ergebnis, daß sie ihre gewonnene Selbständigkeit nicht preisgeben will. Eine differenzierte Studie, die sich mühelos auf westliche Verhältnisse übertragen lässt.
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Ob repräsentativ oder nicht: dies Festival des sowjetischen Films lässt durchaus den Stand der sowjetischen Kinematographie erkennen. Sie beeindruckt durch eine Vielzahl von Themen und Ausdrucksformen, durch handwerkliche Sorgfalt; technische Versiertheit ist eine selbstverständliche Voraussetzung. So präsentiert sich eine wohlausgestattete, aber auch saturierte Filmindustrie. Ihre Kehrseite ist eine unübersehbare Scheu·vor dem ästhetischen Risiko. Das mittlere Niveau eines psychologischen Realismus dominiert, eine Stilhaltung, die oft ins Unverbindliche umschlägt. Selbst cineastische Meisterstücke kleiden sich in dies unscheinbare Gewand, ihre innere Komplexität liegt unter einer konventionellen Oberfläche verborgen. Nicht nur sie jedoch zeugen von einer Kinokultur, die den Zuschauer weder verkrampft belehrt noch ihn unter Berufung auf vorgebliche Unterhaltungs- und Zerstreuungsbedürfnisse infantilisiert, seine Urteils- und Einsichtsfähigkeit betäubt. Die Prüderie des sowjetischen Kinos ist bekannt; aber nicht nur Sex, auch billige Sensationen, Schock- und Gewalteffekte sind verpönt. Wohl fehlt ihm, vor allem im Vergleich mit der russischen Avantgarde der zwanziger Jahre, der innovative Glanz; es pflegt einen oft nur belanglosen Konventionalismus, nicht so weit entfernt von der Wohnstubenästhetik unseres Fernsehens. Seine Moralität, sein Interesse an Alltagsproblemen, sein zum Nachdenken provozierender Gestus jedoch: seine Bindung an ein humanes Ethos hebt es wohltuend von der Masse des uns vertrauten Kinofutters ab.
Wenn darin auch Elemente von Beschönigung, von bloßem Schein liegen mögen; wenn sich darin auch nicht immer Überzeugung, sondern ein politisch-pädagogischer (Partei-)Auftrag niederschlägt, der – in Ablösung oder Umdeutung des "sozialistischen Realismus“ – die Grenzen der Kunstproduktion absteckt, so ist dies doch zugleich eine Chance, die sich die Filme zunutze machen wissen. Von neostalinistischen Filmen freilich, die offenbar im Zuge der Stalin-Renaissance (wie sie sich in der Tilgung von Hinweisen auf Stalins Verbrechen in der großen Sowjet-Enzyklopädie beispielhaft kundgibt) auch wieder produziert werden, ist dabei abgesehen.
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Ein erratischer Findling; schroff und dem Verständnis nur schwer zugänglich, so hebt sich "Das Gebet" (1968) von Tengis Abuladse vor dem Hintergrund jenes ästhetischen Konventionalismus ab. Seine Ausdrucksgewalt, die allegorische Organisation seiner Bedeutungen, die metaphysische Ausrichtung seines Gehalts wirkt ebenso anziehend wie rätselhaft, lösen Betroffenheit und Befremdung gleichermaßen aus. Die Kühnheit, mit der er sich über jeden erzählerischen Zusammenhang hinwegsetzt, verweigert sich der Einfühlung; nur spekulativer Refle xion vermag er sich zu erschließen.
Abuladse greift auf zwei Poeme des georgischen Dichters Washa Pschawelas zurück, die er durch eine symbolische Rahmenhandlung überwölbt. Das Substrat seiner Bilder ist die lebensfeindliche, in den harten Schwarz-Weißkontrasten wie erstarrt daliegende kaukasische Bergwelt, in der die menschlichen Siedlungen zu Festungen ausgestaltet sind; es sind die im Überlebenskampf versteinerten Gesichter der Bergbewohner; es sind die Rituale und Zeremonien, in denen sie ihren inneren Zusammenhalt und ihre äußere Wehrhaftigkeit gesichert haben. Die im Film bewahrte epische Verssprache, oft chorisch gesteigert wie in der antiken Tragödie, verleiht dieser Welt zusätzlich ein archaisches Gepräge.
Pschawelas und Abuladses Thema, wenigstens dessen fasslichste Schicht, ist der Gegensatz von Kollektiv und. Einzelnem, von humanen Impulsen und mythisch sanktionierter Gewalt. Unerbittlich verstößt das Kollektiv den, der gegen das blutige Herkommen seine Menschlichkeit sprechen lässt; den einen, weil er den getöteten Feind nicht noch verstümmeln wollte, den anderen, weil er den Gast vor den Gesetzen der Blutrache in Schutz nahm. Ein gnostischer Dualismus herrscht zwischen dieser Welt und der Sehnsucht nach dem Guten, nach Versöhnung. Nicht im Diesseits, einzig in der Transzendenz, in das sich die Meditation des ‚Gebetes‘ zu versenken sucht - eines Gebetes, wie es zu Anfang und Ende des Films rezitiert wird -, findet die Hoffnung ihre Stütze. Der pessimistische Grundzug, wie er in vielen sowjetischen Filmen zu Tage tritt und der sie fast ausnahmslos ein glückliches Ende verschmähen lässt: hier ist er ausweglos gesteigert.
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Bleibt die Erwartung, dass sich Verleiher und Kinobesitzer endlich aus ihrer Reserve gegenüber dem sowjetischen Film locken lassen. Die Attraktivität der jetzt gezeigten sollte sie eigentlich überzeugt haben. Zunächst einmal ist eine Auswahl aus dem Frankfurter Programm auch in anderen Städten zu sehen: noch im Dezember in Berlin, im Januar in München, anschließend in Duisburg, Dortmund und Hamburg.