Festival San Sebastian 2021 - Wie feministisch muss das Kino sein?
Als das Festival vor zwei Monaten ankündigte, Johnny Depp mit einem Preis für sein Lebenswerk auszuzeichnen, war die Aufregung groß. Feministische Verbände in Spanien wie im Baskenland protestierten gegen die ihrer Meinung nach frauenfeindliche Entscheidung. Das Branchenblatt Screen International empörte sich gleichermaßen wie die englische Boulevardpresse über den „notorious wife beater“, der keinen Preis verdient habe. Bei der Pressekonferenz verwies Johnny Depp darauf, wie Anschuldigungen angesichts der rasenden Beschleunigung im Internet und den sozialen Netzwerken ein monströses Eigenleben entwickeln können. „Es kann jeden von Ihnen treffen, der etwas Unüberlegtes sagt, und dabei völlig außer Kontrolle geraten.“ Es tue ihm leid, wenn sich jemand durch diesen Preis für ihn verletzt fühle, und er dankte dem Festival dafür, nicht einem Zerrbild aufzusitzen, das nicht der Realität entspreche. Die erwarteten Demonstrationen blieben aus. Auf der Pressekonferenz wie bei der Preisverleihung wurde Johnny Depp mit stehenden Ovationen gefeiert.
Angesichts der heftigen Reaktionen im Vorfeld hatte das Festival zur Schadensbegrenzung einen feministischen Workshop eingerichtet und auch sonst alles getan, um eine politisch korrekte Haltung zu demonstrieren. In der Jury gab es neben vier Frauen nur einen Mann, die Preise für die besten männlichen bzw. weiblichen Darsteller wurden durch eine gender-neutrale Variante ersetzt.
Wie nichts anders zu erwarten war, ging dieser Preis an eine Frau, die Amerikanerin Jessica Chastain. Dass sie gewinnen würde, schien von vorherein festzustehen. Ein Hollywoodstar, der praktischerweise vor Ort war, da man ihren Film „The Eyes of Tammy Faye“ bewusst ans Ende platziert hatte. Außerdem war ihre Interpretation der evangelikalen Fernseh-Predigerin Tammy Faye, die zusammen mit ihrem Mann Jim Bakker (Andrew Garfield) in den 1970er und 80er Jahren ein erfolgreiches TV-Imperium aufgebaut hatte, absolut beeindruckend. Das Credo der Bakkers lautete: "Reichtum und Erfolg sind gottgefällig. Warum sollen die Armen ins Himmelreich eingehen?" Jessica Chastain, Hauptdarstellerin und Produzentin des Films, war seit fast 10 Jahren an diesem Projekt engagiert. Sie wollte Tammy Faye, die vor allem als Witzfigur in Erinnerung geblieben ist, Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Die gnadenlos muntere TV-Predigerin war so etwas wie die Glamour Queen der evangelikalen Szene, eine leidenschaftliche Sängerin, die es liebte, modisch gestylt auf der Bühne zu stehen. Mit ihrer hohen, schrillen Stimme klang sie wie die Comicfigur Betty Boop. Es ist ebenso atemberaubend wie unterhaltsam zu verfolgen, wie Jessica Chastain in wechselnden Outfits und mit abenteuerlichen Frisuren die Veränderungen ihre Figur darstellt. Ende der 80er Jahren brach das erfolgreiche PTL-Network zusammen, als Jim Bakker wegen sexueller Skandale und dubioser Immobiliengeschäfte in die Kritik geriet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Mit ihrer Sympathie für Homosexuelle und AIDS-Kranke war Tammy Faye dem rechten Flügel der evangelikalen Bewegung ohnehin ein Dorn im Auge. Konkurrenten mit einer radikalen politischen Agenda wie Jerry Falwell und Pat Robertson kam der Absturz der Bakkers gerade Recht.
Jessica Chastain teilte sich den Darstellerpreis ex aequo mit der 16jährigen Dänin Flora Orfelia Hofmann Lindahl, die in „Du som er i himmeln“ (As in Heaven) ein Mädchen spielt, das ihre Hoffnungen auf eine schulische Ausbildung im Wortsinn begraben muss, als ihre Mutter bei der Geburt eines weiteren Kindes stirbt. Schauplatz des Films ist die puritanisch geprägte Provinz im Dänemark des 19. Jahrhunderts. Der Film zeigt in beklemmenden Bildern den engen Horizont einer bäuerlichen Welt, in der nichts ohne Gottes Wille geschieht. Eine nachvollziehbare, aber nicht zwingende Entscheidung. Mit dem Preis für das beste Ensemble wurden die Jugendlichen der Langzeitstudie „Quién lo impide“ (Who is stopping us) ausgezeichnet. Regisseur Jonas Trueba begleitet eine Gruppe von mehreren Dutzend Jugendlichen über mehrere Jahre und fragt sie nach ihren Vorstellungen von der Zukunft. Einen Darstellerpreis für die Mitwirkenden eines Dokumentarfilms zu vergeben, hat etwas Merkwürdiges.
Noch merkwürdiger fielen die weiteren Preise aus, die sämtlich an Frauen gingen, als sei das Geschlecht ein ausreichender Beweis für künstlerische Qualität. „El Pais“ sprach von einer „grotesken Auswahl“ und „politischen Preisen“. Besonders eklatant war das beim Hauptpreis, der Goldenen Muschel, mit der die rumänische Regisseurin Alina Gregoriu ausgezeichnet wurde. Ihr Debütfilm „Crai nou“ (Blue Moon) war einer der schwächsten Beiträge des Wettbewerbs. Es geht um eine aggressive Großfamilie, die in den karpatischen Bergen Zimmer an Touristen vermietet und sich gegenseitig anschreit. Warum, bleibt meistens unklar. Zwei Töchter träumen von einem Studium in Bukarest und versuchen auszubrechen. Von dramatischer Kohärenz oder Figurenzeichnung kann kaum die Rede sein. Auch der Große Preis der Jury für die britisch-französisch-belgische Coproduktion „Earwig“ von Lucile Hadzihalilovic blieb ähnlich rätselhaft. Der feministischen Logik folgend ging der Regiepreis an die Dänin Tea Lindberg für „As in Heaven“.
Einzige Ausnahme war der Preis für das Beste Drehbuch, der an Terence Davies ging, der zwar ein Mann ist, aber immerhin schwul. Der 75jährige Engländer ist eine Ausnahmeerscheinung im europäischen Autorenkino. Sein Film „Benediction“ war einer der besten des Wettbewerbs und ein Favorit der Kritiker. In poetischen Bildern und brillanten Dialogen zeichnet er die Biographie des englischen Dichters Siegfried Sassoon nach. Jack Lowden beeindruckt in der Rolle des homosexuellen Autors, den seine Erfahrungen an der Westfront im 1. Weltkrieg nie mehr loslassen. In einem offenen Brief hatte er die Fortsetzung des Krieges kritisiert und sich für Friedensverhandlungen ausgesprochen. Daraufhin landet er in einer psychiatrischen Klinik für traumatisierte Offiziere, wo er den jungen Dichter Wilfred Owen kennenlernt und zu seinem Mentor wird.
Mit ironischer Schärfe zeichnet der Film das schwule Milieu der 20er und 30er Jahre, als Homosexualität unter Strafe stand. Wie viele seiner Freunde entschließt sich Sassoon, zu heiraten. Später konvertiert er zum Katholizismus. Wie in Traumsequenzen lässt Terence Davies verschiedene Zeitebenen ineinander fließen und konfrontiert den jungen Sassoon mit sich selbst als verbittertem älteren Mann. „Als schwuler Filmemacher und Ex-Katholik hat mich diese Biographie natürlich gereizt“, erklärte Terence Davies, der per Videolink aus England zugeschaltet war.
Ein weiterer Höhepunkt des Wettbewerbs, der bei der Preisvergabe leer ausging, war der französische Beitrag „Arthur Rambo“ von Laurent Cantet. Er thematisiert die gnadenlose Logik der sozialen Medien und wirkt wie ein cineastischer Kommentar zur Debatte um Johnny Depp. Karim D., ein junger Autor aus der Pariser Banlieue, wird für seinen Debütroman gefeiert, in dem er seine Sozialisation als arabischer Franzose schildert. Bis man plötzlich entdeckt, dass er unter dem Pseudonym ‚Arthur Rambo‘ jahrelang homophobe und antisemitische Tweets gepostet hat. Es sei ein Spiel mit der Provokation gewesen, rechtfertigt sich der Beschuldigte. Doch das hilft nichts mehr, sein Verlag und seine liberalen Freunde wenden sich von ihm ab, in der Pariser Kulturszene, wo er eben noch umschwärmt wurde, lässt man ihn fallen. Zuhause wirft ihm sein jüngerer Bruder vor, die Wut der ausgegrenzten Jugendlichen verraten zu haben. Karim D. ist zwischen alle Fronten geraten. In ironischer Doppelung spielt der Titel an auf den Dichter Arthur Rimbaud, auf die Welt der Literatur, und zugleich auf die von Sylvester Stallone verkörperte Figur des kriegerischen Rowdys „Rambo“.
"Vous ne désirez que moi" (I want to talk about Duras), einer der ungewöhnlichsten Filme des Festivals, erzählt von der ungewöhnlichen Beziehung zwischen der französischen Autorin Marguerite Duras und ihrem letzten Liebhaber Yann Andréa. Der Philosophiestudent verliebt sich in die Bücher von Duras und wird zu einem obsessiven Verehrer der Autorin. Nach einer persönlichen Begegnung schreibt er ihr jeden Tag Briefe, die jahrelang unbeantwortet bleiben. Bis er die Autorin in der Normandie trifft und seine Wohnung und seinen Beruf aufgibt, um mit ihr zusammen zu sein. Die beiden trennt eine Altersdifferenz von 38 Jahren, er ist Ende 20, sie Mitte 60. Trotz seiner Homosexualität entwickelt sich zwischen ihnen eine leidenschaftliche erotische Beziehung, die der Film mit Tuschezeichnungen illustriert. Er wird ihr Sekretär und Chauffeur, lässt sich von ihr herumkommandieren und demütigen.
Das alles erzählt er im Herbst 1982 einer befreundeten Journalistin, die seine ‚Beichte‘ auf Band aufnimmt. Das Material wird nie veröffentlicht. Jetzt hat Claire Simon daraus einen Film gemacht, der sich auf besondere Weise zwischen Dokumentation und Fiktion bewegt. „Es geht nicht nur um Duras, sondern um etwas Universelles, um die Frage, wie Liebe beginnt und wie sie sich entwickelt“, erklärt die Regisseurin. Swann Arlaud, in Frankreich einer der interessantesten jüngeren Schauspieler, verfügt über eine enorme Präsenz in der Rolle des Liebhabers, während Emmanuelle Devos als zurückhaltende Zuhörerin agiert. Ein radikaler Film, der einen tiefen Eindruck hinterlässt und im Rahmen des Festivals ein geteiltes Echo fand.
Bemerkenswert waren zwei spanische Filme im Wettbewerb, die bei der Preisverleihung ebenfalls leer ausgingen. „Maixabel“ von Iciar Bollain erzählt von dem Versuch einer Annäherung zwischen Opfern und Tätern des ETA-Terrors im Baskenland. Im Juli 2000 wird der frühere Zivilgouverneur der Provinz Guipuzcoa Juan María Jáuregui von einem ETA-Kommando ermordet. 11 Jahre später trifft sich seine Witwe Maixabel Lasa mit den Mördern ihres Mannes, um zu erfahren, was damals geschehen ist. Die Täter, die langjährige Haftstrafen verbüßen, haben sich inzwischen von der ETA losgesagt und versuchen, mit ihrer Schuld ins Reine zu kommen. Das ist emotional aufwühlend und glänzend gespielt von Blanca Portillo in der Rolle von Maixabel und Luis Tosar als ehemaligem Terrorist. Unter normalen Umständen zwei starke Kandidaten für einen Darstellerpreis. Wenigstens die katholische SIGNIS-Jury gab ihren Preis an „Maixabel“.
Wie man im Abspann erfährt, wurde das ungewöhnlichen Mediationsprogramm von der spanischen Regierung nicht fortgesetzt. Es ist offensichtlich, dass auch 10 Jahre nach dem Ende des sogenannten bewaffneten Kampfs die Folgen des ETA-Terrors ein unbewältigtes Trauma in der baskischen Gesellschaft bleiben.
Die soziale Spaltung zwischen oben und unten thematisiert „El buen patrón“ (Der gute Chef) von Fernando León de Aranoa. Javier Bardem als leutseliger Familienunternehmer in der Provinz mischt sich hemmungslos in das Privatleben seiner Beschäftigten ein, wobei er stets den eigenen Vorteil im Auge behält. Dazu gehört, dass Angestellte entlassen und dubiose Deals im Hinterzimmer abgeschlossen werden. Auch eine Praktikantin darf sich der persönlichen Aufmerksamkeit des Chefs erfreuen. Vor knapp 20 Jahren gewann Fernando León mit „Los lunes al sol“ (Montags in der Sonne), ebenfalls mit Javier Bardem in der Hauptrolle, in San Sebastián die Goldene Muschel. Damals ging es um die Tragik und Verbitterung nach einem verlorenen Arbeitskampf in der galizischen Werftindustrie. In seinem neuen Film gibt es keine Kämpfe mehr, was bleibt, ist ein sarkastischer Kommentar zu den neuen sozialen Verhältnissen. Am Ende gewinnt der joviale Chef den Preis für ‚Unternehmerische Exzellenz‘ und darf auf staatliche Subventionen hoffen. „El buen patrón“ ist eine schwarze Komödie mit hohem Unterhaltungswert und einem exzellenten Javier Bardem in der Hauptrolle.
Man könnte vermuten, dass er als Mann kaum eine Chance auf einen Preis hatte. Es liegt nahe, diese Tendenz als Reaktion auf die Empörung über den Preis an Johnny Depp verstehen. Falls San Sebastián sich weiter als Plattform für feministisch bemühtes Kino profilieren möchte und zweifelhafte Preisentscheidungen forciert, riskiert das Festival, künstlerisch ins Abseits zu geraten und zu einer eher lokalen Veranstaltung zu werden.