Bericht vom 61. Internationalen Filmfestival Mannheim Heidelberg
Was will das Weib? soll Sigmund Freud gerätselt haben. Es will Selbstbestimmung, die Freiheit, ungehindert über sich zu entscheiden. Die junge Frau will dabei vom Vater, vom Partner ermutigt werden, den eigenen Weg zu finden, um das Richtige zu tun. - Diese Erkenntnis ist nicht neu. Aber dass sie auch für die muslimische Frau gilt, ist das überraschende Ergebnis des. 61. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg. „Leben! Aber wie?“ lautete dieses Jahr das dehnungsfähige Festival-Motto. Es habe sich aus dem reichhaltigen Filmangebot aufgedrängt, sagt Festivaldirektor Michael Kötz. Und entsprechend habe sich der Auswahlausschuss – lauter Männer übrigens - für die 19 Beiträge des Wettbewerbs entschieden, die allein für die Preise in Frage kommen. Vom Thema und der Qualität her fand Kötz aber auch die Nebenreihe der „Internationalen Entdeckungen“ preiswürdig. Sie sollte neun weiteren Werken von Newcomern der Regie die bisher versäumte Aufmerksamkeit verschaffen. Und in der Tat hätten einige dieser Filme ebenso gut, teils sogar noch besser in den Wettbewerb gepasst.
Geschichten, die wehtun
„Filme, die Menschen ernst nehmen, sind Geschichten des Lebens, und die können und dürfen richtig wehtun,“ stimmte Karsten Visarius, Leiter des Filmkulturellen Zentrums im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik Frankfurt, die Gäste des traditionellen Ökumenischen Empfangs der Mannheimer Dekanate ein. Mit schmerzhaften Erfahrungen setzten sich die meisten Beiträge auseinander, und zwar ohne, wie heute im Kino üblich, die Leinwand mit grausigen Szenen von Mord und Totschlag zu überziehen. Kunst kann, wie sich zeigte, Terror und Gewalt auf sehr subtile Weise spürbar machen.
Um Leben und Tod in einem dem Recht der Scharia unterworfenen Land geht es in dem Hauptpreisträger des Festivals. Der iranische Film mit dem seltsamen Titel Final Whistle (Schlusspfiff) stellt sehr eindringlich die Frage: Was würdest du tun – wegschauen oder helfen? Die Teheranerin Niki Karimi, Regisseurin, Autorin und Hauptdarstellerin in einer Person, demonstriert, wie eine Filmemacherin im Bemühen, einer Statistin zu helfen, immer tiefer in ein fremdes Schicksal hineingezogen wird und dabei ihre Ehe aufs Spiel setzt. Die mittellose junge Frau will ihre zu Unrecht als Mörderin verurteilte Mutter vor dem Henker retten und versucht auf alle mögliche, auch auf unvernünftige Weise, das "Blutgeld" für die Familie des (verbrecherischen) Opfers zusammenzubekommen. Dem Partner der Regisseurin aber geht das "Gutmenschentum" seiner Frau zu weit. "Du hast dich so verändert!" wirft sie ihm vor, nicht ohne nachdenklich hinzuzufügen: "Oder ich mich?" Die Hilfsaktion scheitert. - Der Film ist offenkundig für den muslimischen Markt bestimmt (die Frauen legen auch im privaten Bereich ihr Kopftuch nicht ab); Karimi übt Kritik an der Korruption und den Zuständen im Gefängnis, nicht jedoch am Rechtssystem.
Final Whistle
Mehr Glück als die Iranerin hat die kleine Tochter, die der Vater aus einem katholischen Internat in Belgien entführt, um sie als Muslimin in einem marokkanischen Dorf in seiner dortigen Familie aufwachsen zu lassen. Die Regisseurin Kadija Leclere hat in Le Sac de Farine (Der Mehlsack) Züge ihrer eigenen Geschichte verarbeitet: Nach einer Kindheit und Jugend im Trotz, sich mit den desolaten Verhältnissen nicht abzufinden, verzichtet die Herangewachsene gleichwohl auf eine Zukunft mit dem in sie verliebten jungen Revolutionär; sie kehrt bei der ersten Gelegenheit, die sich mit einer Scheinheirat bietet, in die alte Heimat zurück. Neben der exzellenten kindlichen Darstellerin ist Hiam Abbass (Die syrische Braut, Lemon Tree) wiederzusehen, hier als angepasste, aber doch starke marokkanische Vizemutter. Die Ökumenische Jury von SIGNIS und INTERFILM zeichnete dieses bemerkenswerte Spielfilm-Debüt mit ihrem mit 1500 € dotierten Preis aus.
Seelisch kaputte Menschen
"Hoher künstlerischer Wert und die moderne Autorenhandschrift sowie die herausragende Leistung der Hauptdarstellerin" veranlasste dieselbe Jury zu einer "Lobenden Erwähnung" eines anderen Filmerstlings, In a Bedroom (W Sypialni). Hier ist es ein junger Pole, Tomasz Wasilewski, der den plötzlichen Ausbruch einer jungen Frau aus Ehe und Familie schildert. Um ihr Leben zu fristen, raubt Edyta völlig emotionslos als Callgirl Kunden aus, die sie vor dem Sex in deren Wohnung mit K.O.-Tropfen betäubt. Die Methode scheitert aber an einem jungen Mann; er erlöst sie aus ihrer Erstarrung, obwohl er ähnlich wie sie seelisch verkrüppelt ist. Der Film, der offen endet, löste bereits beim Festival in Zürich Diskussionen aus und dürfte auch in der Mannheimer Jury der Kirchen nicht unumstritten gewesen sein.
Die Vielzahl der "kaputten" Mädchen und Frauen überraschte beim Filmfestival, sei es in dem quälenden britischen Spielfilm-Debüt um zwei schizophrene Schwestern von Frances Lea, Strawberry Fields (Erdbeerfelder) oder dem ersten Film des Polen Filip Marczewski, Bez Wstydu (Schamlos), der das Drama über ein inzestuös aneinandergekettetes Geschwisterpaar mit einer Neonazi-Attacke auf Roma anreichert. Als eher modische Attitüde erscheint da der "Pakt der kreativen Subversion" (Festival-Katalog) zwischen einer skrupellosen Teenagerin und einem alten Witwer, der sich hinter seinem Eisenbahnhobby verschanzt hat. Dieser quirlige, aber wenig glaubhaft inszenierte erste Spielfilm des Schweden Jens Sjögren Lycka till och to hand on Varandra (Viel Glück...) wurde mit dem Rainer-Werner-Fassbinder-Preis ausgezeichnet. Da überzeugte die überdrehte Frau eines korrupten Politikers in der schrillen Komödie Seenelkäik (Pilzesuchen) trotz aller Verrücktheiten doch sehr viel mehr. Ihr Mann unternimmt, um unangenehmen öffentlichen Fragen zu entgehen, mit ihr und einem aufgegabelten Musiker einen Ausflug in die estnischen Wälder, wo sich alle drei prompt verirren. Die Filmkritiker-Jury der FIPRESCI entschied sich für den handwerklich erstaunlichen Erstling von Toomas Hussar, der als Este das europaweit übliche Politiker- und Mediengehabe grandios entlarvt.
Seenelkäik
Nie waren in Mannheim-Heidelberg so viele Filme zu sehen, die sich mit den Vorschriften des Koran auseinandersetzen. Der im Iran geborene Frankokanadier Babek Aliassa beleuchtet in Boucherie Halal (Halal-Metzgerei) die Probleme der muslimischen Immigranten in Montréal, die zwischen Anpassung an das moderne Leben und dem Festhalten an Traditionen schwanken. Der Konflikt eines Ehepaares mit dem autoritären Vater, insbesondere die Emanzipationsversuche der jungen Frau und ihrer Freundin sind jedoch nicht schlüssig erzählt, sondern politisch überfrachtet. Einfach und gradlinig gestrickt, aber gerade dadurch überzeugend offenbart der Film Khalifah von Nurman Hakim Indonesien als eine gespaltene Gesellschaft. Hier zwingt ein Muslim seine anpassungswillige Ehefrau unter die Burka, mit der sie im Alltag sehr zwiespältige Erfahrungen macht. Erst als sich der scheinbar fromme Mann als Terrorist mit Doppelleben entpuppt, findet die junge Frau den Mut, ihren eigenen Weg zu gehen.
Kein Preis fürs Happy End
Informationen über Land und Leute sind auch in Ayadin Khachina (Raue Hände) geschickt verpackt. Der märchenhaft schöne, zweite Spielfilm des Marokkaners Mohamed Asli erzählt mit viel Witz und Einfühlsamkeit die Liebesgeschichte zwischen dem Friseur Mustapha, einem Analphabeten, und seiner Nachbarin, der Grundschullehrerin Zakia in Casablanca. Die junge Frau will eigentlich ihrem anderweitigen Verlobten nach Spanien folgen und dort als angebliche Arbeiterin auf Erdbeerplantagen Geld verdienen. Aber sie wird abgewiesen, und so bittet Mustapha die Ahnungslose, ihm beim Schreiben eines Liebesbriefes behilflich zu sein. Daraus wird einer der schönsten Heiratsanträge der Filmgeschichte. Ein Happy End, selbst nach einem hürdenreichen Weg, scheint einen Film für Juroren jedoch zu diskreditieren, mag der auch noch so gelungen sein.
Ayadin Khachina
So wie dieses Werk sollten zumindest zwei Filme, die von der Jury der Kinobetreiber empfohlen wurden, in die Lichtspieltheater gelangen. Zum Ersten La Nina (Das Mädchen) von David Riker (USA). Abbie Cornish spielt hier eine unzuverlässige alleinerziehende Unterschicht-Mutter, an der beim missglückten Menschenschmuggel an der Grenze zwischen den USA und Mexiko ein kleines Mädchen hängen bleibt. Der perfekt verfilmten, zu Herzen gehenden Geschichte ist allenfalls die "political correctness" vorzuwerfen ist, mit der sie für die Rückführung ins romantisch verklärte Dorf plädiert. Zum Zweiten der mit Polen koproduzierte Beitrag Now, Forager (Ein Film über Liebe und Pilze) des Regisseur-Duos Jason Cortlund und Julia Halperin (USA), die bittersüße Emanzipationsgeschichte eines ungleichen Paares, das sich mit Pilzesuchen und Küchenkünsten durchs Leben zu schlagen versucht. Streckenweise ist daraus eine bildschöne Dokumentation über die Natur und Slow-Food-Kochen geworden, ohne dass dabei die Probleme von Mann und Frau aus dem Blick geraten.
Mit dem schmerzhaften Thema Demenz fiel ein sogenannter "Omnibus"-Film aus Taiwan, When Yesterday Comes (Wenn das Gestern zurückkehrt), auch formal aus dem Rahmen des Festival-Üblichen, wie Direktor Michael Kötz einräumte: In vier völlig verschiedenen Episoden beleuchten drei junge Regisseure und eine Frau auf kluge Weise die verschiedenen Aspekte dieser unheilbaren Krankheit und ihrer Auswirkung auf die jeweilige Familie, die in Asien eine so große Rolle spielt. Die Internationale Jury fand diese europäische Filmpremiere einer "Besonderen Erwähnung" wert. Aber hat ein solcher Spielfilm eine Kinochance? hieß es in der Diskussion mit dem Publikum. Ein Mann verneinte das und stieß sofort bei etlichen Frauen auf heftigen Widerspruch: Gerade der ermutigend ehrliche Blick auf die wachsende Not werde doch gebraucht.
When Yesterday Comes
Den Kinobesuchern viel mehr zutrauen
Es ist ein Ärgernis ersten Ranges, dass die meisten der vorgeführten Filme, vor allem, wenn sie keinen Preis bekommen haben, höchst selten über das Festival hinaus an die Öffentlichkeit gelangen. Dabei kann der Festivalleiter Jahr für Jahr zunehmende Zuschauerzahlen in Mannheim und Heidelberg vermelden, und das trotz der "Zumutung" ausschließlich untertitelter Filme. Dafür scheint der Etat zu schrumpfen: Diesmal war kein "Master of Cinema" zu ehren (War wirklich "kein zum Motto passender Kandidat zu finden", wie Kötz behauptete?). Es gab auch keine Festival-Zeitung, die früher täglich erschien. Die Einladung an die Journalisten und an die gegenüber früher verringerten Juries ist inzwischen auf die Hälfte der Festivaltage gekürzt. Für diesen Kreis war ein Kompaktprogramm der Wettbewerbsfilme arrangiert, das sich in dieser Zeit zwar absolvieren, aber keine Gelegenheit ließ, sich auch im Rahmenprogramm umzusehen. Erschreckend auch, dass sich die Presse, von den ortsansässigen Medien abgesehen, für dieses älteste deutsche Festival nach der Berlinale überhaupt nicht mehr zu interessieren scheint. Wer die Begeisterung des Publikums miterlebt hat, muss sich darüber wundern. "Man kann den Menschen viel mehr zutrauen!" folgert Kötz aus dem ungebrochenen Erfolg.