Anmerkungen zum Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2015


Filmfestivals reduzieren sich ikonographisch gemeinhin auf rote Teppiche und Stars, über die die Ware und womöglich die Kunst des Films transportiert werden sollen. Das quadratische Mannheim aber wird während der Zeit seines Filmfestivals nicht zu einem Ort glamouröser Distanz, es wird zu einem Forum sympathischer Nähe und interkultureller Nachbarschaft mit badischer Bodenständigkeit, zur Bühne junger Regisseure und Filmemacher aus aller Welt, die ihre Filme und Erstlingswerke dem Festival und seinem Publikum vorstellen: Weltkino, wie das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg sich selber untertitelt. Fünf Oktober-Tage hatten die Jurys Zeit, die Auswahl der besten Filme anzuschauen, zu erleben, zu diskutieren, um am Ende ihre Favoriten zu nominieren. Viele und nachklingende Eindrücke bleiben von  Filmen, Preisträgern und  Trends; einige Anmerkungen stehen für ein vorläufiges Resümee.



Aus über 800 Filmen hatte das Festival-Team die ihrer Meinung nach 22 besten für den ‚Internationalen Newcomer Wettbewerb‘ ausgewählt, die Hälfte aus Europa, die andere Hälfte aus Mittel- und Südamerika und aus Asien. Eine authentische Reise der Filmkunst durch die Kulturlandschaften "jenseits der Globalisierung gleich-geschalteter Kulturen", wie es Festivaldirektor Michael Kötz beschrieb. Eine Begegnung mit Fremden wie Gewohntem, mit Meisterlichem wie Alltäglichem. Die junge Generation bedient sich für ihre Erzählungen und Dramen der Stilmittel des Autoren-, des Genrefilms und der Komödie. Fast ausnahmslos erzählen die Filme ihre Geschichte in klassischer Dramaturgie, nur der niederländische Film Een dag in 't jaar (12 Months in 1 Day) von Margot Schaap über drei Freunde in Amsterdam wagt das formale Experiment einer poetischen Erzählung. Überraschend, mit welch phantasievollem Ideenreichtum und virtuoser Pointensetzung die Komödien aus Kasachstan über einen sympathischen Gauner (Odnazhdiy v Detskom Dome/Once in an Orphanage von Serik Abishev & Ruslan Magomadov), aus  Mexiko über die Kindertage eines achtjähriges Genies (El Jeremías/Jeremy von Anwar Safa) und aus Tschechien über eine an Krebs erkrankte Altenpflegerin (Domácì péce/Home Care von Slávek Horák) brillieren.  Verstörend die Geschichte des dänisch-britischen Films Bridgend von Jeppe Rönde  über eine ungeklärte Serie von 79 Selbstmorden in der Tristesse der walisischen Grafschaft gleichen Namens, denen bis  zum Jahre 2012 meist Jugendliche zum Opfer fielen; verstörend auch, weil er mit seiner gekonnten wie beklemmenden  visuellen und phonetischen Inszenierung eine suggestive Gewalt eines exzessiven, elementaren Jugendkultes erzeugt, dessen Faszination der Film sich selber nicht zu entziehen gewillt ist und mit der er seine Zuschauer auf dem suizidalen Trip alleine lässt.



La delgada linea amarilla (The Thin Yellow Line), die wunderbar komponierte Geschichte über fünf mexikanische Straßenarbeiter, die in einem zweiwöchigen Akkord die gelbe Mittellinie auf ein 200 Kilometer langes Teilstück einer Landstraße ziehen müssen, verdichtet die dabei behutsam ent-wickelten Lebenslinien dieser Männer zu einem kleinen Panorama menschlicher Existenzen. Den Hauptpreis der Jury, den "Grand Newcomer Award 2015", gewann dieses ausgereifte Werk von Celso R. Garcia. Margot Schaap erhielt für das originelle Konzept ihres Debütfilms  den Spezialpreis der Jury, den "Special Newcomer Award". Für seine mutige Geschichte über einen adipösen Mann in Einsamkeit und Armut am Rande der Gesellschaft, seine künstlerische Meisterschaft und seine Botschaft der Menschlichkeit zeichnete die Ökumenische Jury den Film des Mexikaners Alejandro Gutmán Álvarez, Distancias Cortas (Walking Distance), mit großer Überzeugung aus. Und auch der Publikumspreis ging an einen mexikanischen Film, eben die Komödie um den kleinen, genialen Jungen Jeremias. Alle drei mexikanischen Filme überzeugten jeder auf seine Weise und gaben Zeugnis von einer professionellen, blühenden  Filmkultur und erzählerischen Originalität. Doch auch die anderen Filme mit und ohne Auszeichnung versichern uns einer vitalen, virtuosen, jungen und weltweiten Filmkultur.



Letztendlich zwei Mutmaßungen zu möglichen Trends. Von den Wettbewerbsfilmen widmen sich nur drei einer explizit politischen Thematik: der Tragik des Flüchtlingselends auf dem Mittelmeer der erst maltesische Spielfilm, Simshar von Rebecca Cremona. Dem Einsatz giftiger Agro-Chemie multinationaler Konzerne bei der Rodung des tropischen Regenwaldes und dem Widerstand der Bevölkerung in Argentinien La Tierra Roja, eine belgisch-argentinische Koproduktion unter der Regie von Diego Martínez Vignatti. Und der Verstrickung des peruanischen Militärs im Kampf gegen maoistische Guerillas das spannende Enthüllungsdrama Magallanes von Salvador del Solar. Alle anderen Filme entfalten jenseits der Problemzonen der großen Politik ihre Geschichten persönlicher oder sozialer Dramen wie ein Rückzug in das Private vor der Komplexität einer globalisierten Welt. Deren mediale Herausforderung aber nahm das Festival an, als es sich erstmalig, aber behutsam im Segment "International  Competition Serial Dramas" dem Format der Serien widmete. Ein Klick nur in die Zukunft. Mit den Formaten der Episoden- und Fortsetzungsserien, Procedurals und Serials, und vor allem mit ihren Produktionsbedingungen, Vertriebswegen und Finanzierungen wird der  Markt einer jüngeren mobilen On-Demand-Welt erschlossen, die die traditionellen Sehgewohnheiten transformieren könnte. Es wird nicht der letzte Vorhang des klassischen Kinos sein, aber es wird eine neue Tür weit öffnen zu den Derivaten des Medium Film im Zeitalter von Big Business und Big Data, die Tür zum Zeitalter des E-Films.


 

Viele der diesjährigen Newcomer-Generation des Mannheimer Filmfestivals werden hoffentlich ihren nachhaltigen Weg durch die Arthouse-Kinos weitergehen, einige wird vielleicht ihre Karriere in das Blitzlichtgewitter auf dem roten Teppich der ganz großen Festivals führen. Mannheim bot ihnen und dem Publikum den charmanten und gediegenen Ort eines Prologs voll unverfälschten Glanzes: den Glanz in den Augen der Zuschauer vor der großen Leinwand wie den Glanz der Freude in den Augen der beteiligten Filmemacher.

 

 

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Das 64. Filmfestival Mannheim-Heidelberg (2015) steht unter dem Motto "Weltkino." - ebenso offen wie lapidar und passender zum Megathema des Augenblicks...