Er liebte das Gespräch, und er war ein begeisterter Prediger. Er stürzte sich gerne in Auseinandersetzungen. Und er hatte feste Überzeugungen, die er mit Elan vertrat. Er wusste mit seinem Charme immer neue Kontakte zu knüpfen. Und er hatte das Ohr des Seelenhirten für die Lebensgeschichten der Menschen, denen er begegnete. Er war ein kritischer Geist, ein Theologe mit ganzem Herzen, ein Cinéast, Leser und Musikhörer mit unerschöpflicher Neugier, ein treuer Freund und liebevoller Vater und Ehemann. Für viele ist die Nachricht von seinem plötzlichen Tod fast unbegreiflich. Werner Schneider-Quindeau ist, vollkommen unerwartet, am 24. August 2017 gestorben. Er hinterlässt eine schmerzliche Lücke. Er fehlt uns.
Er wurde in Gönnern geboren, gelegen im hessischen Hinterland zwischen Marburg und Dillenburg, eine ländliche Herkunft, der er stets verbunden blieb. Und von der er sich zugleich weit entfernte. Ein Religionslehrer weckte sein Interesse an Theologie, die er zuerst in Bielefeld, dann in Göttingen studierte. Dort begann auch sein beruflicher Weg. 1975-1982 arbeitete er an der theologischen Fakultät als wissenschaftlicher Assistent. Die Göttinger Zeit prägte sein theologisches Selbstverständnis in der Tradition Karl Barths. Und sein Verständnis der evangelischen Kirche als einer Institution, die sich in der Beziehung zur Welt und den Menschen immer wieder reformieren müsse, im Geist ihrer Anfänge – um dabei immer wieder neu Gott zu entdecken. Zum ersten Mal verheiratet, traf ihn dort auch ein bleibender Schicksalsschlag, der Verlust eines Kindes kurz nach dessen Geburt. Wenn er später über das Vaterbild nachdachte, eines seiner Dauerthemen, stand der Schmerz dieser Erfahrung stets im Hintergrund.
Auch aus dieser Erschütterung verließ er Göttingen und trat 1984 seine erste Pfarrstelle im südhessischen Walldorf, nahe Frankfurt, an. Dort blieb er unvergessen als Pfarrer der wieder errichteten Hüttenkirche der Ausbaugegner des Frankfurter Flughafens, der Startbahn West. Dieses Engagement jenseits der Institutionen ist bezeichnend für seine politische Parteinahme für die Schwächeren und Geschlagenen. Und ein Zeugnis seines Kampfgeistes, den er sich immer bewahrte. In Walldorf muss er auch den damaligen Vorsitzenden der Jury der Evangelischen Filmarbeit, Rudolf Joos, kennengelernt haben. Diese Bekanntschaft führte ihn als Mitglied in die Jury und später, 1987, auch in deren Vorsitz. Dieses Amt war, wie jeder wusste, für ihn eine Herzensangelegenheit. Selbst bei seiner offiziellen Pensionierung konnte er sich nicht davon losreißen. Er blieb, 30 Jahre lang, Juryvorsitzender, bis zu seinem Tod. Für das Jahresende hatte er seinen Abschied geplant.
Film und Kirche erwiesen sich als ein fruchtbares Arbeitsfeld, immer in dieser engen Korrelation. Er widmete ihm als Autor von zahlreichen Aufsätzen, in Veranstaltungen und in vielen ehrenamtlichen Funktionen ein hohes Maß an Zeit, an Kraft, an Geist. Er wurde Vorsitzender des Fachausschusses Film und AV-Medien im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) in Frankfurt und in dieser Funktion auch Mitglied des GEP-Vorstandes. Er war 1999-2003 Filmbeauftragter des Rates der EKD und setzte sich dabei für die Umwandlung dieser ehrenamtlichen Aufgabe in eine hauptamtliche Kulturbeauftragung ein. Er war 2004-2013 Vizepräsident von INTERFILM, Mitglied oder Präsident vieler kirchlicher Festivaljurys – in Berlin, Cannes, Locarno, Moskau, Oberhausen, Venedig – und blieb Mitglied des INTERFILM-Vorstands bis zuletzt. Bei den »Arnoldshainer Filmgesprächen«, in dessen Vorbereitungskreis er mitwirkte, prägte er die Form der filmischen Tagungsmeditation, die in der aus den Veranstaltungen entstandenen Filmbuchreihe dokumentiert sind.
Er sah den Film als ein Feld der Wahrnehmungsschulung und der Erkenntnis (nicht zuletzt für die Kirche), der Erschließung menschlicher Erfahrungen und Emotionen, Möglichkeiten und Abhängigkeiten, des kreativen und kritischen Einspruchs gegen das Bestehende. »Die Kunst der Unterscheidung als protestantische Aufgabe«: mit diesem programmatischen Titel beschrieb er zugleich das Kernmotiv seiner Bemühungen, Kirche und Film zu nähern. Seine Filmleidenschaft ging gewiss darüber hinaus. Aber er blieb auch dabei Theologe durch und durch. Seiner zweiten Frau, der Psychoanalytikerin und Professorin Ilka Quindeau, verdankt er einen weiteren intellektuellen Blickwinkel auf seine stets wachsende Kinoerfahrung: die Frage nach dem Verhältnis von Psychoanalyse und Film. Ein Buch zu diesem Thema, an dem er zuletzt arbeitet, blieb unvollendet.
Aus der Sicht des verwalteten Lebens waren all dies Nebentätigkeiten. Gewiss nicht aus seiner. Dabei setzte er sich mit nicht minderer Energie für seine offiziellen Aufgaben ein, als Studienleiter am Theologischen Konvikt in Frankfurt (1989-2000), als Pfarrer für gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (2000-2007) und als Stadtkirchenpfarrer an der Kirche St. Katharinen in Frankfurt (2007-2015). Hinter diesen Titeln steckt ein erstaunliches, manchmal beängstigendes Arbeitspensum. Es sprengt jedenfalls die Grenzen eines Nachrufs.
Neben dem Film beschäftigte ihn ein zweites großes Thema: der Holocaust. Er sah die deutsche Gesellschaft stets in dessen Schatten. Aus diesem Verständnis beteiligte er sich intensiv am jüdisch-christlichen Dialog, unter anderem als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Bei der Bibel dachte er die Thora immer mit. Auf dieser Grundlage entstand ein weiteres Arbeitsfeld, die Organisation von Studienreisen nach Israel und nach New York. Jerusalem war ihm der Ort seines spirituellen Ursprungs, New York ein fast utopischer Kosmos kultureller Vielfalt, in dem er ein urbanes, vitales jüdisches und christliches Gemeindeleben fand, Frankfurt sein Lebenszentrum: mit diesen drei Städten beschrieb er sein persönliches Koordinatensystem. Zu seinem 60. Geburtstag widmeten ihm Freunde und Kollegen eine Festschrift zu diesem Themenkomplex, Titel: »Religion und Urbanität. Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft«.
Kirchengemeinden, Stadtorganismen, Filme, gemeinsame Reisen – sie alle waren für Werner Schneider-Quindeau zuerst und zuletzt die Kristallisation lebendiger Beziehungen. Dort fand er Menschen, und Menschen fanden ihn. Sie erlaubten ihm Wahrnehmungen in Fülle, die für ihn vor den Wirkungen standen. So stand er vielen nahe. Jetzt müssen sie ihn in anderen Räumen suchen.