Internationale Arthouse-Ikonen, wiederentdeckte Musiker und eine georgische Gewinnerin
Während der Belle Époque, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gehörte San Sebastián neben Biarritz zu den touristischen Attraktionen am Golf von Biskaya. 1931 wurde hier die Zweite Spanische Republik ausgerufen, denn die gesamte politische Elite des Landes verbrachte ihre Ferien in der Stadt mit dem berühmten Strand La Concha. In den 80er und 90er Jahren wurde das einst mondäne Seebad zur Hauptstadt des ETA Terrorismus. Militante baskische Nationalisten setzten städtische Busse in Brand und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei - Situationen, die man bei Festivalbesuchen in den 80er Jahren beobachten konnte.
Ein ähnliches Motiv wird zu einer Schlüsselszene in der Serie „Patria“, die Aitor Gabilondo für HBO Spanien produziert, geschrieben und inszeniert hat. Die Serie basiert auf dem gleichnamigen Roman von Fernando Aramburu, der in San Sebastián aufgewachsen ist und seit 30 Jahren in Deutschland lebt. In Spanien erlebte das Buch einen phänomenalen Verkaufserfolg und gewann alle wichtigen Literaturpreise. Die vor zwei Jahren erschienene deutsche Ausgabe schaffte es auch bei uns auf die Bestseller-Listen.
„Patria“ war ein Höhepunkt des Filmfestivals von San Sebastián, eines der ältesten in Europa, das wegen der zeitlichen Nähe etwas im Schatten von Venedig steht. In diesem Jahr brauchte man sich vor der Konkurrenz auf dem Lido nicht zu verstecken und konnte mit einem hochkarätigen Programm aufwarten.
„Patria“ erzählt in einer Länge von mehr als 7 Stunden, wie zwei Familien in einer baskischen Kleinstadt in den Strudel des ETA-Terrors geraten. Die Frauen sind befreundet, die Männer spielen zusammen Karten. Txato, der ein Transportgeschäft betreibt, wird unter Druck gesetzt, die sogenannte 'Revolutionssteuer' zu bezahlen. Aber das genügt nicht. Er wird im Ort als Ausbeuter und Verräter beschimpft, bis er schließlich erschossen auf der Straße liegt. Der Sohn der Freundin ist inzwischen ins Lager der ETA gewechselt und in Frankreich untergetaucht.
Die Serie bleibt nahe am Buch, erzählt die Geschichte von Ausgrenzung und Verrat in kalten, dunklen Bildern. Verregnete Straßen und Landschaften, keine Tourismus-Werbung für das Baskenland. Kunstvoll wechselt die Serie, ähnlich wie der Roman, zwischen verschiedenen Zeitebenen und den individuellen Schicksalen der Familienmitglieder. Immer wieder bricht in den Erinnerungen der Figuren die Vergangenheit durch. Gabilondo hat den Film ausschließlich mit baskischen Schauspielern besetzt, was den Figuren ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit verleihen. Völlig benommen taumelt man gegen 1 Uhr morgens aus dem plüschigen Teatro Victoria Eugenia in die laue Sommernacht. Mehr als 850 Menschen hat die ETA im Laufe der Jahre umgebracht. Bis heute hat sich niemand bei den Opfern entschuldigt. Wie das Klima der Einschüchterung und Angst jahrzehntelang den Alltag des Baskenlandes geprägt hat, zeigt „Patria“ auf beklemmende Weise.
Auch in einem anderen Film spiegelte sich die Stadt auf der Leinwand. Nämlich im Eröffnungsfilm von Woody Allen: „Rifkin's Festival“, den er er im vergangenen Jahr in San Sebastián gedreht hat. Ein klassisch amerikanischer Blick auf die urbane Schönheit von „Old Europe“, schwelgerisch ins Bild gesetzt von Vittorio Storaros Kamera. Wallace Shawn alias Mort Rifkin, der an einer amerikanischen Universität Filmgeschichte unterrichtet, besucht mit seiner Frau (Gina Gershon) das Festival. Sie macht dort PR für einen französischen Regisseur (Louis Garrel), mit dem sie prompt eine Affäre anfängt. Schließlich kommt noch die schöne Elena Anaya als einheimische Kardiologin ins Spiel. Wie man sich denken kann, ergeben sich daraus jede Menge Beziehungsverwirrungen. Mort Rifkin, ein Alter Ego des Regisseurs, wird nachts von filmhistorischen Albträumen in schwarz/weiß heimgesucht. Woody Allen konnte zwar persönlich nicht kommen, war aber zur Pressekonferenz aus New York zugeschaltet, und äußerte sich begeistert über dieses Festival, das, wie er sagte, „frei von kommerziellen Zwängen jungen und unbekannten Filmemachern eine Plattform bietet“.
So gewann zur allgemeinen Überraschung die 34jährige Georgierin Dia Kulumbegashwili für ihr Spielfilmdebüt „Beginning“ nicht nur die Concha de Oro, die Goldene Muschel für den Besten Film, sondern außerdem Preise für die Beste Regie und das Beste Drehbuch. Zu viel des Guten, möchte man sagen. Eine Gemeinde der Zeugen Jehovas irgendwo in Georgien wird bedroht, ihr Gemeindehaus angezündet. Der geistliche Führer hat ein seltsames Verhältnis zu seiner Frau, die Opfer sexueller Übergriffe wird, gespielt von Ia Sukhitaschwili, die als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Alles in langen Plansequenzen mit starrer Kamera gedreht im Format 4:3. Der Kunstwille ist unübersehbar, ja drängt sich geradezu auf. „Beginning“ war für Cannes ausgewählt und von einem gewissen Hype begleitet, spätestens seit der Film den Preis der Kritik in Toronto gewann. Die meisten Kritiker kamen nach der Pressevorführung etwas ratlos aus dem Kino und fragten sich, was der Dichter ihnen sagen wollte.
Die Höhepunkte des Wettbewerbs lieferten renommierte Vertreter des internationalen Arthouse-Kinos. Eindeutiger Publikumsliebling war der Däne Thomas Vinterberg mit seinem Film „Druk“, was man frei mit „Komasaufen“ übersetzen könnte. Vier Freunde, Lehrer mittleren Alters, beschließen eines Tages ein Experiment mit kontrolliertem Alkoholkonsum durchzuführen. Inspiriert von den Thesen eines norwegischen Psychologen, der davon ausgeht, dass der menschliche Körper unter einem Alkoholdefizit leidet. Zuerst läuft alles bestens, der Geschichtslehrer Max, grandios gespielt vom dänischen Star Mads Mikkelsen, erwacht aus seiner Lethargie und begeistert auf einmal die gelangweilten Schüler mit seinem Unterricht.
Doch irgendwann läuft das Experiment aus dem Ruder, und er wacht morgens im Rinnstein vor dem Haus der Nachbarn auf. Seine Söhne sind peinlich berührt und seine Frau ist, wie man sich denken kann, überhaupt nicht amused. So findet der Spaß schließlich kein gutes Ende. Das grandiose Lehrerquartett, Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Magnus Milling und Lars Ranthe, gewann verdient den Darstellerpreis. Thomas Vinterberg hat den Film seiner wenige Tage vor Beginn der Dreharbeiten verstorbenen Tochter Ida gewidmet. Es wirkt wie ein Wunder, dass er es trotzdem geschafft hat, ihn fertig zu stellen. Wenn man das weiß, findet man im apathisch versteinerten Blick von Mads Mikkelsen die projizierte Trauer des Regisseurs wieder.
Wie auch Vinterbergs Film sollte „True Mothers“ von Naomi Kawase ursprünglich in Cannes laufen. Nachdem das Großereignis an der Côte d'Azur Corona zum Opfer fiel, taten die beiden Festivals sich zusammen und San Sebastián konnte jetzt ein 'Best of Cannes' bieten. „True Mothers“ ist vielleicht Kawases stärkster Film, der die poetischen Qualitäten ihrer früheren Werke mit einer stringenten Story verbindet, die das Dilemma eines kinderlosen Paares mit einer Teenager-Schwangerschaft verknüpft. Als nach Jahren die leibliche Mutter des Jungen auftaucht, kommt es zum Konflikt. Elegant läßt Kawase unterschiedliche Zeiteben und Erzählperspektiven ineinander fließen. Das ist von leichter Hand inszeniert wie auch die poetischen Bilder und die im Gegenlicht gefilmten Gesichter.
Auch Francois Ozons neuer Film „Été '85“ (Sommer '85) war eigentlich für Cannes vorgesehen und ist inzwischen in Frankreich mit großem Erfolg angelaufen. Ozon hat sich vom Roman des englischen Autors Aidan Chambers, „Dance on My Grave“, inspirieren lassen und die Szenerie in die Normandie verlegt. Der 16jährige Alexis verliebt sich in den erfahrenen und coolen David. Zwei Vorstellungen von Liebe prallen aufeinander. Es wird ein tragisches Ende nehmen, wie Alex gleich zu Beginn aus dem Off erzählt. Ozon hat auf Super-16mm gedreht, womit der Look des Films der Farbpalette der 80er Jahre nahe kommt. „Es war die Zeit auch meines sexuellen Erwachens. Ich komme zwar nicht aus einer proletarischen Familie wie Alexis, aber ich kann mich gut an meine Gefühle erinnern, als ich meine schwule Sexualität entdeckt habe.“ In „Été '85“ spürt man den Überschwang und Schmerz der ersten Liebe, grandios verkörpert von Félix Lefebvre in der Hauptrolle.
Trotz Corona waren zwei Hollywood-Stars nach San Sebastián gekommen. Johnny Depp stellte den von ihm produzierten Dokumentarfilm „Crock of Gold: A Few Rounds With Shane MacGowan“ vor. „Ich war schon immer fasziniert von extremen Charakteren“, meinte der exzentrische Star, der zuletzt wegen der Schlammschlacht seiner Scheidung in die Schlagzeilen geriet. Auf der Pressekonferenz wirkte der angeblich so abgedrehte Schauspieler sehr präsent. „In meiner Jugend war Hunter S. Thompson mein großes Vorbild. Er wurde mein Mentor und war wie ein Vater für mich. Ähnlich ging es mir mit Marlon Brando. Mit Shane MacGowan bin ich seit mehr als 30 Jahren befreundet.“ Als Sänger und Songschreiber der Band „The Pogues“ wurde MacGowan zur Punk-Ikone und trug wesentlich zur Erneuerung traditioneller irischer Musik bei. Regisseur Julian Temple zeigt den Musiker im Zusammenhang mit dem jahrzehntelangen Kampf um ein unabhängiges republikanisches Irland. Mit Anfang 60 ist MacGowan heute ein menschliches Wrack. Drogen und Alkohol haben ihm schwer zugesetzt, aber er ist immer noch hellwach.
Auch Matt Dillon, der als Jury Mitglied eingeladen war, präsentierte eine Musikdokumentation. „El Gran Fellove“ war der Künstlername des kubanischen Sängers und Komponisten Francisco Fellove, der in den 40er Jahre den Scat-Gesang in Kuba revolutionierte. Mitte der 50er Jahre emigrierte er wie viele afro-kubanische Musiker nach Mexiko, wo er große Erfolge feierte. Als Dillon Ende der 1990er Jahre auf ihn aufmerksam wurde, lebte Fellove halb vergessen in Mexico City. Zusammen mit dem befreundeten Jazzmusiker Joey Altruda überredet er den 77jährigen, der seit 20 Jahren keine Platte mehr aufgenommen hatte, zu einer Einspielung mit jungen kubanischen Musikern. Matt Dillon filmte die Recording Session mit der Kamera. Das Ergebnis ist die spannende und bewegende Wiederentdeckung eines großen kubanischen Musikers, der im Studio noch einmal aufblüht. Jahrelang lag das Filmmaterial im Archiv, weil die Platte damals nicht erscheinen konnte. 20 Jahre später hat Matt Dillon aus der musikalischen Spurensuche einen faszinierenden Dokumentarfilm gemacht, der Wim Wenders' „Buena Vista Social Club“ alt aussehen lässt.
Ähnlich wie in Venedig galten in San Sebastián verschärfte Hygieneauflagen. In der ganzen Stadt herrschte strenge Maskenpflicht, Desinfektion vor den Kinos und dem Festivalzentrum war obligatorisch. Als der amerikanisch-französische Regisseur Eugène Green sich weigerte, im Kino eine Maske zu tragen, wurde er des Festivals verwiesen. So ging alles glatt über die Bühne. Allerdings ohne die abendlichen Partys, die von Woody Allen in „Rifkin's Festival“ gefeiert werden.