Motion und Emotion, äußere und innere Bewegung: seit es das Kino gibt, gehören sie zusammen. Im Augenblick der Kinowahrnehmung geht das von der Kamera reproduzierte mechanische Abbild in die innere Bilderwelt unserer Träume, Phantasien und Visionen ein. Seit hundert Jahren funktioniert diese Magie des Kinos, die den flüchtigen Moment verewigt und den wandelhaften Schatten in uns Gestalt verleiht. Sie funktioniert übrigens für die wie absichtslose dokumentarische Aufnahme so gut wie die höchst kalkulierte Spielfilmszene, die beiden filmischen Sphären, deren Grenzen das Kino immer wieder verwischt. Die Dinge, die das Herz erschüttern, wie Chris Marker es in seinem Filmessay „Ohne Sonne" formuliert, nach ihnen suchen das Kino und wir, die wir uns in seine dunklen Säle und vor ihre vom Licht des Projektors erhellten Leinwände locken lassen.
Eine einzige Formel kann den Film, diese jüngste und ganz unserem Jahrhundert eigene Kunstform, nicht erschöpfen. Zwar ist seine Geschichte erst kurz, nicht länger als ein Menschenleben dauern mag ‒ sodaß Agnes Varda in ihrem Film zum Jubiläumsjahr ihm noch in Gestalt des hundertjährigen Monsieur Cinéma huldigen kann. Zugleich ist es ein weiter Weg vom simplen Jahrmarktsvergnügen der Brüder Lumiere und Georges Meliès zur Omnipräsenz des Filmischen in den Medien, deren rapide technologische Entwicklung uns schon mit dem Verschwinden des Kinos droht. Das Pantheon der besten Filme und Regisseure, das zum Geburtstag des Kinos in verschiedenster Besetzung eröffnet wird, sieht für manchen schon wie sein Grabmal aus.
Kinoenthusiasten und die Jugend lassen sich von solchen pessimistischen Prognosen in ihrer Faszination nicht beirren. Als Ort einer intensiven ästhetischen Erfahrung behauptet sich das Kino neben dem ausgedehnten Filmangebot und -konsum über Fernsehen und Video.
Eine der Attraktionen des Kinos seit jeher ist das Versprechen, den eigenen Horizont überschreiten zu können. Mit Entgrenzungen psychischer, ebenso elementar aber auch raumzeitlicher Natur locken Filme uns in Welten jenseits unserer Alltagsidentität und -erfahrungen. Sie bieten uns per se eine andere Perspektive als unsere eigene an oder zwingen sie uns sogar auf. Film, das Medium der Grenzüberschreitung, verstrickt uns in das Spiel der Identität und ihrer Auflösung. Gerade die Ausdrucksvielfalt des europäischen Films und seiner Autoren ‒ gegenüber der Universalität, aber auch Uniformität des amerikanischen Kinos ‒ lebt von dieser Lust der Verwandlung in Spannung zur eigenen Herkunft. Indem der europäische Film die eigenen Grenzen in Frage stellt, auch die des Mediums selbst, macht er uns das Vertraute fremd und das Fremde vertraut.
Dieser anspruchsvolle, manchmal auch anstrengende ästhetische Prozeß hat auch eine politische Dimension. Er versetzt uns in den imaginären Horizont einer gemeinsamen Geschichte und einer gemeinsamen Zukunft jenseits unserer biographischen Identitätsprovinzen. Nach hundert Jahren ist das utopische Potential des Kinos längst nicht ausgeschöpft.
Zuerst erschienen in Arnoldshainer Akzente - Nachrichten aus der Evangelischen Akademie Nr. 1/95
© Karsten Visarius