Lucky klärt die großen Fragen des Lebens

Betrachtungen zu den amerikanischen Beiträgen des Festival Locarno 2017. Von Charles Martig
Lucky (John Carroll Lynch)

"Lucky" von John Carroll Lynch (© Festival Locarno)


Harry Dean Stanton ist berühmt für seine Rollen in «Paris Texas» von Wim Wenders und «The Godfather Part II» von Francis Ford Coppola. Mit 90 Jahren ist er nochmals vor die Kamera getreten und gibt den verschrobenen, aber lebenstauglichen Cowboy im Südwesten der USA. Mit «Lucky» hat ihm der junge Regisseur John Carroll Lynch ein Denkmal gesetzt. Weitere starke Filme aus Nordamerika, die im Wettbewerb von Locarno zu sehen waren, regen an zum Nachdenken über Leben und Tod. Der unabhängige US-Film lebt und setzt in Locarno starke Zeichen.
 
Mit seinem Morgenritual stellt der alte Kerl in Unterwäsche gleich einen Rekord auf. Vor und nach der Morgengymnastik raucht er seine Zigaretten, zieht seine Cowboystiefel an, setzt sich den Hut auf und tritt in das gleissende Sonnenlicht. Er ist aber kein «Marlboro Man», wie es das Klischee der Tabakwerbung will. Nein, Lucky ist durch und durch Realist. Er weiß, was er vom Leben noch erwarten kann. Täglich dreht er zu Fuß seine Runden durch das kleine Dorf im Südwesten der USA.
 
Mit viel Witz und Ironie führt uns Regisseur John Carroll Lynch in seinem Indpendent-Fim «Lucky» durch die Schauplätze. Sein Protagonist hat keinen Namen. Alle nennen ihn einfach «Lucky», wohl weil er eine robuste Gesundheit und einen pragmatischen Sinn für die Bewältigung des Alltags hat. Selbst beim Arzt stellt er ernüchtert fest, dass sich trotz eines Sturzes zuhause keine Krankheit feststellen lässt. «You are getting old», sagt ihm der Doktor. Für diese Diagnose bedankt er sich mit trockenem Witz.
 
Widerstand mit der Zigarette in der Hand
 
Lucky hat feste Rituale, einen geregelten Tagesablauf und Freunde in der Bar, die er regelmäßig besucht. «Bloody Mary» ist sein Lieblingsdrink und er provoziert gerne die Barinhaberin mit der Drohung, eine Zigarette anzuzünden. Mit solchen kleinen Widerstandsakten gegen die Political Correctnes hat er sich Respekt und Feinde verschafft. Aber auch noch mit 90 besteht Lucky darauf, seinen eigenen Weg zu gehen.
 
Perfekte Balance zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit
 
Auf der Reise durch das Universum von «Lucky» gibt es aber auch Schmerz und die Angst vor dem Tod. So findet der Film eine wunderbare Balance zwischen banalem Alltag und tiefgründigen Gesprächen, zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit. Es handelt sich um ein kostbares Stück, bestehend aus entwaffnender Alltags-Poesie und lakonischer Americana-Stilisierung. Harry Dean Stanton hat mit dieser Rolle nochmals die Gelegenheit bekommen, all seine Stärken auszuspielen. Konfrontiert mit dem Ende des Lebens, ist dieser herausragende Schauspieler in eine kongeniale Rolle hineingewachsen.
 
Erinnerung an die Gewalt in Alabama
 
Generell haben die US-amerikanischen Arthouse-Filme im Wettbewerb von Locarno einen sehr starken Eindruck hinterlassen. So zum Beispiel der dokumentarische Essay «Did You Wonder Who Fired the Gun?». Travis Wilkerson macht sich auf die Spurensuche nach einem Mord aus rassistischen Motiven in Alabama. Er kommt dabei einem dunklen Geheimnis seiner Familie auf die Spur. Erschreckend an dieser subjektiv gefärbten Suche nach den Wurzeln des Bösen in der menschlichen Natur ist die Einsicht, dass die Grenzen zwischen den Ethnien in den USA weiterhin bestehen. Die Diskriminierung pflanzt sich über Generationen fort. Noch immer ist die Recherche von Morden an Schwarzen im Süden der USA ein grosses Risiko für Filmschaffende. Die Gewalt in diesen gesellschaftlichen Milieus ist überall präsent. Und niemand will sich dieser gefährlichen Erinnerung stellen.
 
Illegale Migranten in Brooklyn
 
Filmisch weniger gelungen, dafür sozialkritisch engagiert ist das Migrantendrama «En el séptimo día». Jim McKay erzählt vom Leben der illegalen Migranten in Brooklyn, New York. Alles dreht sich hier um die mühsame Arbeit als Hilfskraft, die Sehnsucht nach der Familie in Mexiko und um den Fußball. Die Träume von José werden durchkreuzt durch die vielen verschiedenen Ansprüche, die er im Alltag permanent erfüllen muss. Auf den Citybike durquert er die Stadt und liefert Esswaren aus. Der Gegensatz zwischen dem engen Wohnraum der Migranten und den großzügigen Lofts der Hipster könnte nicht größer sein. Hier prallen soziale Realitäten aufeinander, unspektakulär und in einer einfachen Geschichte rund um ein Fußball-Finale am Sonntag erzählt. Vielleicht ist dieses undramatische Erzählen die Stärke dieses Films.
 
Auf der Piazza Grande wurde die Einwanderer-Komödie «The Big Sick» gezeigt, in der das Leben eines Pakistani in Chicago sehr liebevoll und mit Witz erzählt wird. Als Standup-Comedian und westlich-modern aufgewachsener Mensch widerspricht Kumail ganz und gar nicht den Erwartungen seiner Familie. Er hat sich in die Studentin Emily verliebt, hält dies vor seiner Familie jedoch geheim. In dieser Geschichte prallen zwei Kulturen aufeinander. Es geht um den Gegensatz von Liebesbeziehung und arrangierter Hochzeit, um Moderne und Tradition. Auf sehr sympathische und beschwingte Weise löst Michael Showalter diesen Konflikt auf und gibt dem unglücklichen Paar eine neue Perspektive.
 
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und von kath.ch.