Meister des zeitgenössischen Kinos in Cannes 2005

Festivalbericht von Jurypräsident Hans Hodel

Der Preis der 31.Ökumenischen Jury am 58. Filmfestival Cannes ging an die französische Produktion „Caché“ des 63jährigen österreichischen Regisseurs Michael Haneke, der dafür auch den Fipresci-Preis der Filmkritiker und den Preis für die beste Regie der Internationalen Jury entgegennahm. Eine Lobende Erwähnung vergab die Ökumenische Jury zudem an die mit französisch-schweizerischer Beteiligung entstandene Produktion „Delwende“ (Lève-toi et marche) von S. Pierre Yameogo aus Burkina Faso. Der Film wurde von der Stiftung für das Kino ferner mit dem „Preis der Hoffnung“ ausgezeichnet.

Die Zahl der renommierten Meister des zeitgenössischen Kinos, die zum Stelldichein des diesjährigen Wettbewerbs nach Cannes kamen, war selten so gross und entsprechend hoch waren die Erwartungen. Man erhoffte sich phantasievolle neue Impulse, überraschende Steigerungen und überzeugende substantielle Vertiefungen dessen, was sie bisher gezeigt haben – entsprechend gross war am Ende trotz eines anspruchsvollen Niveaus die Ernüchterung; allerdings nicht nur für das Publikum! Viele der grossen Meister verliessen die Côte d’Azur wie geschlagene Helden das Schlachtfeld, nachdem sie bei der Internationalen Jury unter dem Präsidium des doppelten Palme d’Or-Preisträgers Emir Kusturica die nötige Anerkennung nicht gefunden hatten. Vielleicht waren die Erwartungen zu hoch, denn es ist wohl zu billig, von den Filmemachern über die Problemanzeigen hinaus zugleich auch die Lösungsvorschläge für die zahlreichen und vielschichtigen Konfliktfelder zu erwarten, welche die Zukunft unserer Zeit verdunkeln.

 

Die grossen würdigen Verlierer

 Zu den grossen und ausgiebig diskutierten Verlierern gehört Atom Egoyan mit seinem komplex angelegten und perfekt realisierten Film „Where the truth lies“, in welchem eine junge Journalistin nach fünfzehn Jahren einem Todesfall im Showbusiness-Milieu auf die Spur zu kommen versucht; dann aber auch Lars von Trier mit Manderlay, einem wie „Dogville“ im brechtschen Stil inszenierten Drama über den gescheiterten Versuch der Einführung demokratischer Verhaltensregeln nach amerikanischem Muster in einer Gemeinschaft ehemaliger farbiger Sklaven im tiefen Süden der USA; aber auch David Cronenberg, der mit A History of Violence eine spannungsgeladene wie ironische Studie über den schwierigen Versuch eines Ausbruchs aus der Gefangenschaft mafioser Verstrickungen und die Durchbrechung des Teufelskreises von Gewalt und Gegengewalt gezeigt hat; sodann Gus Van Sant mit seinem vom Tod Kurt Cobains inspirierten elegischen Film Last Days, dessen Tonspur abgesehen vom autistischen Gemurmel des zugedrönten Protagonisten vor allem am Anfang und am Schluss mit geistlicher Musik der Renaissance und unüberhörbaren Glockenklängen unterschwellige Erlösungsbedürfnisse suggeriert; schliesslich aber auch Wim Wenders. Für seinen in geradezu betörender Weise mit Versatzstücken des Westerns spielenden Film Don’t Come Knocking, in welchem der als Drehbuchautor verantwortlich zeichnende Sam Shepard wie schon im 1984 preisgekrönten Film „Paris-Texas“ die Hauptrolle spielt, hätte er durchaus eine Palme verdient. Der Film beginnt damit, dass der alternde Cowboyfilm-Star Howard völlig unverständlich von einem Set davon reitet und sich auf die Suche nach seinem 19jährigen Sohn begibt, nachdem er von seiner Mutter davon erfahren hat, wobei offen ist, ob er aus einer früheren Beziehung  nicht auch eine Tochter hat. Eine Rückkehrgeschichte also, bei welcher die engelgleichen Frauen dreier Generationen eine wichtige Rolle spielen. Aber es zeigt sich, dass die Geliebte und die Kinder der Geliebten ihren eigenen Weg gefunden haben und dass das Bedürfnis nach Versöhnung nicht so schnell wie erhofft zu befriedigen ist. Wenders mahnt die Väter, erwachsen zu werden.

 

Die grossen würdigen Gewinner

Jim Jarmusch mit seiner lakonisch erzählten Geschichte Broken Flowers, mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet, ist ohne Zweifel ein würdiger Preisträger. Warum er aber Wim Wenders vorgezogen wurde, darf trotzdem gefragt werden, denn eine gewisse melancholische Sentimentalität ist beiden Filmen eigen, und immerhin geht mit dem von Bill Murray stoisch gespielten Computerspezialisten Don auch hier ein Mann auf die Suche nach seinem vermuteten Sohn, wobei er allerdings von diesem wesentlich weniger erfährt als von seinen Geliebten, die ihn eigentlich alle aus dem Gedächtnis gestrichen haben. Zwar mag Jarmusch’s Film auf den ersten Blick origineller erscheinen und unterhaltender wirken als derjenige von Wenders, der nicht wenige Déjà-vus enthält. Das ist aber auch alles.

Die Goldene Palme für das packende Sozialdrama L’enfant der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die sie bereits 1999 für den Film „Rosetta“ gewonnen haben, ist zwar ebenfalls eine würdige Wahl; sie erfolgte aber eher überraschend und war vor allem deshalb nicht zwingend, weil 2002 ihr weitaus stärkerer Film „Le fils“ (Lobende Erwähnung der Oek.Jury) leer ausgegangen war. Man darf rätseln, ob sich der Titel auf das neu geborene uneheliche Kind bezieht, das der als Kleinkrimineller tätige Vater ohne Wissen seiner jungen Freundin auf dem Adoptionsmarkt verkaufen will, oder auf ihn selbst, denn der Blondschopf Bruno, die Hauptperson des Films, ist ein verantwortungsloser Kindskopf, der früher oder später im Gefängnis landet. Die Reue ist eher erzwungen und kommt spät. Die Hoffnung bleibt in diesem Film ein schwaches Pflänzchen.

Der im Kontext des Wettbewerbsprogramms oft als Kandidat für die Goldene Palme diskutierte und schliesslich bloss mit dem Regiepreis ausgezeichnete Film Caché von Michael Haneke löste nicht nur auf der Leinwand, sondern auch beim Publikum viele Irritationen aus und sorgte für anhaltende Spekulationen über die Frage, wer oder was sich denn hinter dem Geheimnis der anonym auftauchenden Videoaufzeichnungen verstecken könnte, die das private Leben und berufliche Umfeld eines angesehenen Fernsehpräsentators immer stärker zu stören und zu verunsichern beginnen. Die Filme und die als Verpackung dienenden Zeichnungen wecken unverarbeitete, verdrängte ungute Kindheitserinnerungen, über die er unverständlicherweise selbst mit seiner Frau nicht sprechen will. Sie führen ihn auf die Spur eines verleugneten Algeriers aus jener Zeit, der sich über das Wiedersehen freut, aber keinen Kontakt herstellen kann. „In einem strengen Stil evoziert der Filmemacher die Komplexität der Verantwortung des Menschen gegenüber seiner Vergangenheit und der Geschichte“, begründet die Ökumenische Jury ihre nach einer langen Diskussion getroffene Preisentscheidung, bei der sie selbstredend auch andere Filme in Erwägung gezogen hatte, deren Geschichten von Heimsuchungen erzählen, die einen Einzelnen, eine Familie oder eine Gemeinschaft vor schwierige Situationen stellen und die Frage nach verantwortlichem Handeln provozieren.

Nicht wenige Filme drehten sich um vergangene schmerzhafte Erfahrungen,  handelten von Schuld und Sühne, erzählten von kürzeren oder längeren Wegen der Reue und Busse (so auch der mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnete Film The Three Burials of Melquiades Estrada von Tommy Lee Jones). Die Bitte um Vergebung war in diesen Tagen auffällig oft zu hören, oftmals allerdings in einer wenig überzeugenden ritualisierten Form. Wohl gerade deshalb wirkt Hanekes Film so nachhaltig, weil er sich einer voreiligen Auflösung der Lebenskrise seines Protagonisten entzieht und dem Publikum noch ein Stück Arbeit zumutet.