Am 17. Dezember 2023 starb im Alter von 89 Jahren der georgische Regisseur Otar Iosseliani, ein großer Poet des Kinos. Aufgrund der sowjetischen Zensur emigrierte er 1982 nach Frankreich, wo 1984 sein bekanntester Film entstand: "Les favoris de la lune" (Die Günstlinge des Mondes). 1999 entstand "Marabus" (OT: Adieu, plancher des vaches), zu dessen Filmstart in Deutschland Karsten Visarius eine in epd Film erschienene Kritik schrieb. Zum Gedenken an Otar Iosseliani folgt hier dieser Text in einer Wiederveröffentlichung online.
Spielen können (oder nicht)
"Marabus" (Adieu, Plancher des Vaches!) von Otar Iosseliani
Mit einem kleinen Mädchen fängt alles an, mit einem Kind, allein in einem Zimmer mit verstreuten Spielsachen. Was immer es beginnt, es wird unterbrochen, ermahnt, zurechtgewiesen von den vorbeieilenden Erwachsenen, die sich im Salon nebenan zu einer vielstimmigen Gesellschaft versammelt haben. Das Kind bleibt nicht das einzige Objekt erzieherischer Maßregeln. Auch der Regisseur – Otar Iosseliani in der Rolle des Hausherrn – wird von Madame, der Gastgeberin, empört zurückgescheucht, als er angetrunken und im Schlafanzug seinen Kopf zur Tür hereinstreckt. Zuletzt sitzt das Mädchen am Fenster und schaut in den Regen hinaus. Danach, wenn der Film sich ins Leben und in die Welt stürzt, vergessen wir die kurze Episode, bis wir viel später das träumende Kind noch einmal das die Scheiben herabrinnende Wasser betrachten sehen. Dieses Vergessen und Wiederfinden, dies aus dem Blick Verlieren und Zurückkommen kennzeichnet den Rhythmus von Iosselianis neuem Film ebenso wie der Übergang vom Spiel zum Ernst – wobei wir nie wissen, wo die Grenze verläuft und auf welcher Seite wir uns gerade befinden.
Während am Morgen Madame im Hubschrauber zu ihren Geschäften aufbricht, der Hausherr sein Refugium zum Tontaubenschießen verläßt, die obligatorische Weinflasche im Gepäck und ein Glas in der Manteltasche, fährt der neunzehnjährige Nicolas mit dem Boot vom Schloß in die Stadt, um seinen zahlreichen Gelegenheitsjobs nachzugehen, Freunde zu treffen, den Mädchen zuzulächeln. Auf seinen Spuren lernen wir den Mikrokosmos eines Pariser Quartiers kennen, den der Film in anekdotischen Kurz- und Kürzestgeschichten aufblättert – den Streuner Pierre, der mal als Bettler mit rührender Vita, mal als Kleinkrimineller den Leuten in die Tasche greift; den georgischen Flüchtling und Clochard, der die Wände abgerissener Häuser nach vergessenen Schätzen abklopft; den Devotionalienhändler, der mit geschmuggelten Ikonen Gewinne macht und eine Gasexplosion arrangiert, bei der seine streitsüchtige Lebens- und Geschäftspartnerin ums Leben kommt; das Familienrestaurant, in dem die Großmutter jedes Gericht inspiziert und der kellnernde Enkel die Trinkgelder zu steigern lernt; ein afrikanisches Paar in edlen Gewändern, die Frau immer zwei Schritte hinter ihrem Herrn; den Reichen mit undurchsichtigen Geschäften, der sich ständig über seinen Diener ärgert, einen katastrophal ungeschickten schwarzen Riesen. In einem Bistro verliebt sich Nicolas in die Tochter des Patrons und kippt gleich vier Calvados nacheinander, um länger in ihrer Nähe zu sein. Sie aber folgt dem Aufreißer Gaston, der in einer Putzkolonne der Bahn sein Geld verdient und auf einem geliehenen Motorrad die Frauen abschleppt.
Die Blicke verzweigen sich und kreuzen sich wieder, die Figuren kreisen um sich selbst wie Rädchen in einem Uhrwerk, die Geschichten verzahnen sich. Wie aufgezogen schnurrt der Film dahin, in seinem kunstvollen Ablauf eine Metapher seiner selbst: ein mechanischer Automat wie das Sammlerstück in Jean Renoirs Klassiker "Die Spielregel", das auch bei Iosseliani das Regelwerk der menschlichen Beziehungen vertritt. In "Marabus" hat er eine ähnliche Apparatur untergebracht – eine Spielzeugeisenbahn, die im Zimmer des Schloßherrn und Filmautors, Nicolas' doppelten Vater, ihre verschlungenen Kreise zieht. Dort verbrüdert er sich auch, trinkend und singend, mit dem georgischen Clochard, den Nicolas zusammen mit anderen zur Begutachtung des Weinkellers angeschleppt hat.
Am nächsten Tag, im zweiten Akt des Films wird Nicolas bei einem leichtfertigen Überfall geschnappt und ins Gefängnis gesteckt. In rapiden Überblendungen zieht ein Jahr vorbei, und nichts ist wie zuvor – nur die Heiterkeit und Leichtigkeit des Erzählens ist geblieben, Iosselianis Option für das schöne Spiel und gegen den häßlichen Ernst. Nicolas hat die Seiten gewechselt und ist vernünftig geworden, der Reiche Madames offizieller Liebhaber, der Patron gestorben, seine Tochter mit Gaston verheiratet und Mutter eines Kindes; zwei Schritte hinter der schönen Schwarzen folgt gehorsam der Devotionalienhändler. Der Schloßherr Iosseliani hat genug und verläßt seinen Besitz, natürlich mit einer Flasche Wein im Gepäck, um mit seinem Landsmann und Sinnesbruder, dem Clochard, auf einem Boot in See zu stechen. Ein großes Adieu, ein langer Abschied ist dieser Schluß. "Adieu, Plancher des Vaches" heißt der Film im Original – ein fröhlicher Abschiedsgruß der Seeleute ans Festland. Man könnte fast vergessen, dass irgendwann keiner zurückkommt. Man könnte die Trauer hinter dem Lachen überhören. Bleibt noch der Marabu, das Prunkstück von Madames Festen. Anfangs darf er sich noch auf ihre Schultern schwingen, am Ende steht er in einem nicht einmal goldenen Käfig. Ein seltsamer Vogel – ein Stück Natur, das aussieht, als sei es von der Phantasie erfunden worden.
© epd Film/Karsten Visarius