Mit der Ökumenischen Jury unterwegs am FIFF 2016
Semana Santa (Alejandra Márquez Arbella)
Soeben ist das 30. FIFF (Festival International de Films de Fribourg) zu Ende gegangen, und ich fahre mit dem Zug zurück nach Neuchâtel, den Geist noch voller Bilder, Melodien, dramatischer und weniger dramatischer Geschichten, Dialoge, Nachklänge von Diskussionen, und mit dem Gefühl, während acht Tagen überall in der Welt umhergereist zu sein. Über 150 Filme hätte man insgesamt sehen können, wenn man zur selben Zeit in mehreren Kinos hätte sitzen können...
Frauen im Film
Thema dieses Jahres war die Frau, die Frau im Film, als weibliche Gestalt, und die Frau hinter der Kamera, als Regisseurin. Und so war denn beinahe die Hälfte der gezeigten Filme von Frauen gedreht. Zu den Frauen im Film fiel auf, dass es, auf welchem Kontinent auch immer, vor allem kämpfende Frauen waren: Frauen in schwierigen Ehe- und Familiensituationen, Frauen bei der Trauerarbeit, Frauen, die traumatische Ereignisse verarbeiten müssen wie Vergewaltigungen oder Kriegszerstörungen, usw. Ein Filmfestival bietet relativ wenig leichtes Unterhaltungskino, eher das Gegenteil.
Die Aufgabe der ökumenischen Jury
Im Auftrag von INTERFILM und SIGNIS hatte die Jury die dreizehn langen Filme, die im internationalen Wettbewerb standen, zu visionieren und zu evaluieren, um schliesslich einem unter ihnen den Preis zu verleihen, der von den beiden kirchlichen Hilfswerken Fastenopfer und Brot für alle mit CHF 5'000 dotiert ist. Die Grundlinie unserer Evaluation war uns mit folgenden Zeilen mitgeteilt: „Der Preis wird einem Film vergeben, der „innovativ und künstlerisch anspruchsvoll ethische und spirituelle Fragen zur Darstellung bringt, insbesondere Sinnfragen in Lebenssituationen in Ländern Osteuropas, Afrikas, Asiens und Lateinamerikas reflektiert und für Respekt gegenüber der Würde der Menschen und ihren Rechten, für Solidarität und nachhaltige Entwicklung einsteht.“ In weiterer Auslegung ging es neben der künstlerischen Qualität auch darum, die Filme in Hinsicht auf das Gespür für transzendente Dimensionen des Lebens, Werte im Sinne des Evangeliums, christliche Verantwortung in heutiger Gesellschaft und hoffnungsvolle Entwicklung von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung.
Es war keine leichte Herausforderung, solche ethisch-religiöse Kriterien auf eine heutige Filmproduktion anzuwenden, die sich wohl nicht primär um solche Aspekte kümmert. Vier von den dreizehn Filmen waren von Frauen gedreht. In neun von ihnen spielte ein Mädchen oder eine Frau die Hauptrolle. Die Kontinente waren etwas ungleich vertreten: ein Film kam aus Osteuropa (Ukraine), einer aus Afrika (Algerien), zwei aus dem Nahen und Mittleren Osten (Israel, Iran), vier aus Asien (Nepal, Indonesien, Philippinen, Südkorea) und fünf aus Lateinamerika (Argentinien, Kolumbien und drei aus Mexiko).
Einige Schwierigkeiten
Drei Aspekte unserer Arbeit seien hier kurz thematisiert: 1. Auffallend war, dass mehrere Filmtitel mit religiösen Bezügen spielten: Da gab es eine Madonna (Shin Su-won, Südkorea 2015), und vielleicht nicht nur wegen der Sängerin; mit Mountain (Yaelle Kayam, Israel/Dänemark 2015) war der Ölberg bei Jerusalem gemeint; Song of Songs (Eva Neymann, Ukraine 2015) meinte eindeutig das alttestamentliche „Hohelied“ (es war interessant zu testen, wer in den verschiedenen Jurys noch Kenntnis davon hatte…); und mexikanische Ferientage fanden in der Semana Santa (Alejandra Márquez Abella, Mexiko 2015) statt, in der Osterwoche also. In den Filmen selbst waren diese Bezüge dann sehr unterschiedlich behandelt: nur indirekt, indem in einem Film, in dem niemand seine Verantwortung wahrnimmt, die Geschichte der Verleugnung Jesu durch Petrus zu hören ist; religionskritisch, wie etwa in Mountain, wo die junge jüdische Mutter unter ihrem streng orthodoxen Ehemann leidet; oder in knapper Anspielung, indem in Siti (Eddie Cahoyono, Indonesien 2014) die Titelheldin auf die Bemerkung ihrer Schwiegermutter, Gott schlafe nicht, antwortet, dann sei er aber in den Ferien…
2. Auch nicht einfach war der Umgang mit den vertretenen Werten. Wie oben schon angedeutet wurde, handeln die meisten Frauen als kämpfende Frauen, und so schlagen sie sich irgendwie durch. Die eine greift zur Waffe, um das tausendköpfige Monster des Krankenversicherungswesens in die Knie zu zwingen (A Monster with a Thousand Heads von Rodrigo Plá, Mexiko 2015), während eine andere in einer zwielichtigen Karaoke-Bar arbeitet, um die Schulden ihres gelähmten Mannes zu bezahlen. Und in Mountain, dem mit dem höchsten Preis der internationalen Jury prämierten Film, wird das Lebensproblem mit Rattengift gelöst…
3. Und wie steht es schliesslich mit dem hoffnungsvollen, menschenwürdigen Ende? Zwar endeten die meisten Filme offen, so dass die Zuschauer zur eigenen Interpretation herausgefordert wurden (für wen ist das Gericht mit und das Gericht ohne Rattengift bestimmt?). Viele Filme jedoch tendierten im Sinne Friedrich Dürrenmatts zu ihrer „schlimmstmöglichen Wendung“: ein resignierter Verzicht, ein verzweifelter Amoklauf, ein zerstörerischer Wutanfall.
Unsere Auswahl: eine andere Maria
Nach regelmässigen Gesprächen im Laufe der Woche fiel unsere Preisentscheidung schliesslich auf den Film Alias Maria von José Luis Rugeles (Kolumbien/Argentinien/Frankreich 2015). In einem atemberaubenden Film konfrontiert uns der Regisseur mit dem tragischen Schicksal der in der kolumbianischen Guerilla zwangsrekrutierten Kinder. Wer mit kolumbianischen Flüchtlingen in den 1980er und 1990er Jahren in Kontakt war, ahnt, wie gut dokumentiert der Film ist. Der Regisseur hat mit Hunderten von direkt betroffenen Kindern und Jugendlichen gearbeitet und hat darunter auch die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler seines Filmes gefunden.
Im Film, der im Dschungel gedreht wurde, wird die Geschichte der 13jährigen Maria erzählt, die vom Kindesalter direkt ins Erwachsenenalter hinein gezwungen wurde. Wie die meisten der zwangsrekrutierten Mädchen ist sie auch das Sexobjekt eines Soldaten geworden und ist schwanger. Doch Schwangerschaften sind in der Guerilla verboten, ausser für die Gefährtin des Kommandanten. So bereitet sich Maria auf eine Abtreibung vor. Doch, als sie beauftragt wird, mit einem Kommando im Dschungel das Neugeborene des Kommandanten in Sicherheit zu bringen, entdeckt sie durch die Betreuung des Kleinkindes in ständiger Todesgefahr die Beziehung zum Kind, das in ihr selbst gross wird, erlernt Solidarität und Betroffenheit, verteidigt das Leben gegen alle Todesangriffe. Und so wird sie ungehorsam, bricht mit der Kriegsmechanik und rennt, rennt um die Zukunft ihres Kindes. „Alias Maria“ ist ein Kriegsname, wie üblich in der kolumbianischen Guerilla. Aber „Alias Maria“ könnte auch heissen: Hier wird eine „andere Maria“ gross…