Opening Shot: Unsere Lage im Film
"Human Flow" von Ai Weiwei
Am 10. November 2017 wurde im Filmforum des Museum Ludwig in Köln der 9. Eine-Welt-Filmpreis NRW verliehen. Der Preis wird im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Fernsehworkshop Entwicklungspolitik von einer unabhängigen Jury verliehen und ist von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen gestiftet. Er ist mit 7.500 € für den ersten Preis, 5.000 € für den zweiten und 2.500 € für den dritten Preis dotiert und gilt Filmen, die für die Probleme der Länder des Südens sensibilisieren, Veränderungsmöglichkeiten eröffnen und Perspektivwechsel ermöglichen. Den ersten Preis gewann "Das grüne Gold (Dead Donkeys Fear No Hyenas)" von Joakim Demmer (Schweden, Finnland, Deutschland 2017). Der zweite Preis ging an "Mirr - Das Feld" von Mehdi Sahebi (Schweiz 2016), der dritte Preis an "'#MyEscape" von Elke Sasse (Deutschland 2016). Die Keynote zur Eröffnung der Veranstaltung unter dem Titel "Opening Shot - Unsere Lage im Film" hielt Karsten Visarius, Executive Director von INTERFILM.
Sehr geehrter Herr Minister, verehrte Preisträger, meine Damen und Herren,
man hat mich gebeten, etwas zu einem Thema zu sagen dass mich seit vielen Jahren beschäftigt, und mit dem ich bis heute nicht zu Rande gekommen bin. Es fängt schon damit an, dass es gar nicht einfach ist, dieses Thema in einer Formel, in Begriffen, in einer klar umrissenen Themenstellung zu fassen. Was leisten Filme? könnte ich vereinfachend sagen, oder: was zeichnet Filme aus? Was macht sie zu Ereignissen, zu Vorgängen in der Zeit, denen wir immer mehr Zeit in unserem Leben einräumen, oder sogar einräumen müssen? Ich könnte gut verstehen, wenn Sie sich vor solchen Fragen ein wenig erschrecken, weil sie vollkommen zu Recht fürchten, dass man damit kein Ende finden kann. In einer solchen Situation haben sich zum Glück metaphorische Verfahren bewährt, ein Nachdenken mit und in Bildern, das uns erlaubt, auch im Unbekannten zu navigieren. Das liegt bei Filmen nicht ganz fern. In diesem Sinne habe ich meinen Überlegungen, bei denen Sie mich jetzt begleiten müssen, den Titel gegeben: „Opening Shot – Unsere Lage im Film.“
Der opening shot, die erste Einstellung, ist eine blaue Fläche, leicht geriffelt, in einem strahlenden Licht, begrenzt nur vom Rahmen des Bildes, der Leinwand, des Bildschirms, des Kamerablicks. Unser Blick fällt von oben auf sie herab, aus einer Höhe, höher als der Vogel, der über sie hinweg zieht, höher also, müsste man sagen, als aus der Vogelperspektive. Wir sehen von sehr weit oben auf das Meer.
Dann schiebt sich von rechts ein Keil in die Fläche, ein Boot, gesäumt vom weißen Schaum der Bootswelle und bis an den Rand gefüllt mit Menschen in grellfarbenen Westen, die auch aus der Distanz unverkennbar sind.
Mit dieser Einstellung beginnt der Film „Human Flow“ von Ai Weiwei, der bei der 74. Mostra d'arte cinematografica in Venedig uraufgeführt wurde und von der Jury der Evangelischen Filmarbeit als FILM DES MONATS November 2017 ausgezeichnet wurde. In diesem Film setzt sich Ai Weiwei, selbst ein Flüchtling, ein Emigrant, ein politisch Verfolgter, mit dem Phänomen der weltweiten Migrationsbewegungen auseinander. Wobei es ihm gelingt, eine bemerkenswerte Balance zwischen ihrer globalen Dimension und den vielen individuellen Fluchtgeschichten herzustellen.
Bleiben wir noch etwas bei der ersten Einstellung, bei dem, was wir sehen können, wenn wir etwas länger hinsehen. Wir wissen, dass sich das Meer jenseits der Bildgrenzen fortsetzt, dass es in Wahrheit keine Grenzen hat. Es ist ein Transitraum, und das Bild wie später der Film legen uns nahe, dass dieser Transitraum sich immer weiter ausdehnt, über die Kontinente hinweg. So anziehend sein Blau auch sein mag, so hat er doch keinen sicheren Boden, und was in ihm dahinzieht, ist ein gebrechliches Provisorium, nur ein paar Zentimeter Holz oder Blech, nur eine dünne Schicht Luft zwischen Gummi oder Plastik vom Untergang entfernt. Und wir? Haben wir nicht den Überblick, sind wir nicht in sicherer Distanz? Auf den zweiten Blick ist das die Täuschung des Filmbildes, die Kameraillusion. Denn dort, in dieser Distanz, in dieser Höhe, können wir uns gar nicht aufhalten. Die Filmkamera schenkt uns, wie der Medientheoretiker Paul Virilio gesagt hat, ein fliegendes Auge, das, im Gegensatz zu uns, den Irdischen und Erdgebundenen, jederzeit überall sein kann. Wer die Täuschung erkennt, versteht: Wir sitzen mit denen, die wir von oben beobachten, im gleichen Boot.
Wir sind so klein oder so groß wie sie, unterwegs im Ungewissen. Das ist das wahre Bild unserer Lage, gesehen, zugestanden, von sehr weit oben.
Jean-Luc Godard hat dekretiert – in seiner „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“ –, dass eine einzelne Einstellung noch gar nichts sagt, und erst der Schnitt, die Kombination von mindestens zwei Einstellungen, eine sinnvolle filmische Aussage ergibt. Wie sie gehört haben, bin ich damit nicht ganz einverstanden, jedenfalls was die erste Einstellung betrifft. In einer filmischen Einstellung verdichtet sich bereits ein ganzes Bedeutungsgefüge, in ihr verschränken sich, wie das schöne deutsche Wort „Einstellung“ im Unterschied zum englischen „shot“ signalisiert, das Gesehene mit dem, der es sieht – und mit dem, der es uns zu sehen gibt. In die Einstellung fließen Haltungen und Absichten, Standpunkte und Einsichten wie Vordergrund und Hintergrund immer mit ein.
Allerdings ist es richtig, dass erst die zweite und dritte und alle folgenden Einstellungen zu erkennen geben, was uns ein Film sagen und zeigen, und wie er seine erste, noch ganz offene Einstellung spezifizieren, differenzieren, eingrenzen und fortführen will. Ich will wenigstens noch die beiden folgenden Einstellungen von Ai Weiweis Film zur Sprache bringen. Die eine zeigt ihn selbst, den Filmemacher, mit einer Handykamera in der Hand, am Meeresufer, die nächste die, die er damit filmt – Flüchtlinge, die ihm und also auch uns aus einem Boot entgegenkommen. Wir sind jetzt mit denen, die wir sehen, auf Augenhöhe, mit dem Regisseur und mit den Flüchtlingen. Sie werden zu einem Gegenüber, zu einem Du – und sie sind mit uns im gleichen Wahrnehmungsraum, anders gesagt: im gleichen imaginären Raum vereint.
Was Martin Heidegger philosophisch als Grundfigur unserer Existenz analysiert hat, nämlich das In-der-Welt-Sein, wird uns im Film, gleichsam alltäglich, immer wieder vor Augen geführt. Nur vordergründig sitzen wir im Kino in einem Kinosessel.
Ich habe bisher vermieden, zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm explizit zu unterscheiden. Schon deshalb, weil mich die Vermischungen und Überschneidungen beider mehr interessieren als ihre offenkundigen Differenzen. Wie sehr zehren der Neorealismus und alle seine Nachfolger bis heute vom dokumentarischen Substrat des Films, und wie stark sind die Anleihen der Dokumentaristen bei den narrativen, psychologischen und inszenatorischen Kunstgriffen des Spielfilms, um ihre Geschichten schlüssig und ihre Protagonisten verständlich zu machen. Vielleicht hilft es weiter, Spielfilme, mit einer Heidegger-Variante, als In-einer-anderen-Welt-Sein zu charakterisieren – in einer Phantasie- oder Märchenwelt, in der Welt einer früheren oder künftigen Zeit, mindestens in der Welt eines anderen Ichs. Die Grundoperation des Spielfilms, nämlich die Schaffung einer unsichtbaren „vierten Wand“, spricht für eine solche Unterscheidung. Wir, das Publikum, können durch sie hindurch, die Figuren nie über sie hinaus sehen. So nah sie uns kommen, werden sie dennoch nicht zu einem Du, dass es nur in einer gemeinsam geteilten Welt geben kann. Der Dokumentarfilm kennt diese Wand nicht.
Das heißt keineswegs, dass uns Dokumentarfilme nicht in fremde Welten versetzen könnten – ganz im Gegenteil. Die Erfahrung des Fremden gehört ganz elementar zu unserer Welt dazu, manchmal schon zu der Welt nebenan. Das Fremde ausschließen zu wollen heißt nichts anderes als zu hoffen, sich der Welt verschließen zu können. Und wir lernen gerade, dass nichts heftiger verteidigt wird als falsche Hoffnungen.
Hier, an diesem Abend und in diesem Kontext, mag sich mancher fragen, ob denn Filme dagegen helfen könnten. Ich fürchte: nein. Die Verbitterung, Frustration und Feindseligkeit derer, die sich gegen „die Fremden“ aufputschen lassen, ist ja von diesen gar nicht verursacht. Sie speisen sich aus ganz anderen, vergifteten Quellen. Für die Therapien, die sie erfordern, erscheinen mir deshalb Filme und wohlgemeinte Aufklärung überhaupt herzlich wenig geeignet. Eine verpanzerte Wahrnehmung lässt sich durch sie nicht durchdringen.
Vorher, vor der Verpanzerung, freilich schon. Die wahrnehmungsoffene Gattung Mensch, erfahrungsdurstig und wandlungsfähig, kann von der welterschließenden Bildermaschine Film kaum genug bekommen, erst recht, seit sie sich vom Kino und seiner schweren, kostenintensiven Apparatur weitgehend gelöst hat. Ihre Erfinder, die Brüder Lumière und andere, hätten sich diese Karriere nicht träumen lassen. Sieht man ihre inzwischen restauriert vorliegenden Filme heute, zum Beispiel auf YuoTube, so kann man wieder und immer noch den Zauber ermessen, den die Verwandlung der Welt in Bilder bedeutete – die Verwandlung des Realen in das Imaginäre, des bloß Vorhandenen in das Erblickte. Sie konnte alles betreffen, das Bekannte nebenan wie das Ferne, noch nie Gesehene. Wobei gerade durch den Film der Unterschied zwischen nah und fern immer unbedeutender wurde. Aus den Kommentaren von Thierry Frémaux, dem Festivaldirektor von Cannes, zu dem Konvolut der restaurierten Lumière-Filme lässt sich zusätzlich lernen, wieviel Können und Kunstfertigkeit schon die ersten Dokumentaristen für ihre 60 Sekunden langen, ungeschnittenen Filme aufbringen mussten: für die Wahl der Kameraposition, des Ausschnitts, der Blickachse, des Bildaufbaus bis hin zu inszenatorischen Anweisungen für das Verhalten der Gefilmten. Nicht zu Unrecht sind die Filme der Lumières – und ihrer Kameramänner – nicht vergessen worden.
An den über hundert Jahre alten Lumière-Filmen sticht ein Umstand hervor, der sich in Filmen von heute leicht übersehen lässt. Wir sehen in ihnen nicht nur Menschen und Objekte einer vergangenen Welt, wie in einer Fotografie. Wir sehen, wie eine vergangene Zeitspanne vor unseren Augen noch einmal abläuft: eine Minute aus dem Paris oder dem Lyon vor 1900. Nicht nur das Bild einer Bewegung oder eines Ereignisses, sondern das Bild der mit und in ihnen vergehenden Zeit ist das, was den Film zum Film macht. Der Film konserviert die Zeit, oder, wie André Bazin, der berühmte Kritiker der berühmten Cahier du cinéma, es pointiert formuliert hat, er mumifiziert die Zeit. Die Flüchtigkeit des gelebten Moments lässt sich plötzlich von Erleben ablösen und transformieren in eine sichtbare Dauer. Dieser „pharaonische“ Aspekt des Films betrifft unvermeidlich auch die Filme der Preisträger, die wir heute Abend ehren, die Kleinbauern aus Äthiopien und Kambodscha in „Das grüne Gold“ von Joakim Demmer und in „Mirr – Das Feld“ von Mehdi Sahebi, oder die Flüchtlinge in „#MyEscape“ von Elke Sasse. Diese Filme schenken ihnen Dauer, vor unseren Augen oder anderer, jetzt oder später. Ob sie etwas bewirken, wissen wir nicht. Aber sie haben sie und ihre Geschichten vor dem Vergessen und Übersehenwerden bewahrt. Damit kann es anfangen: Dass ihre Geschichten anders werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.