Bericht von den 47. Internationalen Kurzfilmtagen
© Paul Driessen

"Der Status quo ist der Tod des Festivals," verkündete Lars Henrik Gass zur Eröffnung der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Der griffig verkürzten Parole zufolge, die einer siechen Gegenwart eine gewandelte Zukunft versprach, hätte das Festival umgehend kollabieren müssen. Seltsam verschmolzen in dieser wie anderen Formulierungen des Festivalleiters Avantgarde-Optimismus und Demonstration einer marketingbewussten Dynamik. Oberhausen, das seinen professionellen Besuchern inzwischen eine gesalzene Akkreditierungsgebühr abverlangt, scheint nach seiner Umwandlung in eine GmbH solcher Gesten zu bedürfen. So musste auch das in Zeiten der Globalisierung verblasste traditionelle Motto des Festivals, "Wege zum Nachbarn", dem Slogan "Filme für Ungeduldige" weichen – mit dem Risiko, dem Publikum mit sei's trivialen, sei's überspannten Kurzfilmexercitien oder mit technisch-organisatorischen Pannen dennoch manche Geduldsprobe zumuten zu müssen.

Deutlichstes Signal für den beanspruchten Wandel in Permanenz ist die von Gass initiierte Integration von Musikvideos in das Festivalprogramm und die Einrichtung des MuVi-Awards für deutsche Beispiele des Genres. Die Kooperation mit MTV, der, wie 3sat und arte, im Umfeld des Festivals Kurzfilme aus Oberhausen ausstrahlte, ist greifbares Resultat dieser Entscheidung. Wer davon eine Popularisierung des Festivals erhoffte oder befürchtete, sah sich indessen in der Auswahl für den MuVi-Award mehrheitlich experimentellen Arbeiten weitab vom Mainstream der Musikindustrie gegenüber. Dabei muss für das Innovationspotential des Genres, aus dem inzwischen anerkannte Spielfilmregisseure oder Stars der Kunstszene hervorgegangen sind, kaum noch eine Lanze gebrochen werden.

Mit dem Sonderprogramm "Out of Time" der beiden Kuratorinnen Robin Curtis und Laura U. Marks, das sich mit den unterschiedlichen Zeitgestalten, -perspektiven, -metaphern, Zeitumformungen und -verformungen im Film beschäftigte, hatte das Festival ein ebenso grundsätzliches wie unerschöpfliches Metathema gewählt. Allein siebzehn Vortrags- und Filmprogramme waren ihm gewidmet, ein ganzes Semesterpensum in wenigen Tagen. Ein frappierendes Beispiel filmischer Zeiterfahrung bot bereits das Eröffnungsprogramm: >A Year along the Abandoned Road< von Morten Skallerud, der zur Musik Jan Garbareks in einer zwölfminütigen, ungeschnittenen Kamerafahrt einen See am Polarkreis umrundet und dabei ein ganzes Jahr durchmisst, taglose Winternächte und nachtlose Sommertage, den Wechsel der Farben, des Belebten und Unbelebten, alles wie in einem haltlosen Schwebezustand, losgelöst von der Frage, ob nun die Zeit "gerafft" oder "gedehnt" erscheint. Vielmehr verschieben sich die Maßstäbe von Dauer und Veränderung, Menschen werden zu vergänglichen Sekundengebilden und Landschaften gewinnen ein eigenes Leben. Und zusätzlich fragt sich der Zuschauer mit einem gleichsam technischen Erstaunen, wie dieses neue Auge eigentlich funktioniert.

Neben anspruchsvollen Reflexionen filmischer Zeitfiguren unter Berufung auf philosophische Autoritäten wie Kant oder Deleuze blieb auch Raum für Formen fröhlicher Wissenschaft – wie im Vortrag "Cream and Sink Emergencies: Zapping Time!!!" von Johan Grimpronez, der sich von der Erfindung und Entwicklung der Fernbedienung zu eigenwilligen Gedankensprüngen zwischen Medien- und Sozialgeschichte, zwischen Strategien der Werbeindustrie und des Pentagons im Kalten Krieg, zwischen der Verwandlung des privaten Haushalts durch Fernsehen und Computer und der Bevölkerung des Weltalls mit UFO-Phantasien inspirieren ließ. Wir steuern, so sein Verdacht, in eine mediale Kollektivneurose, in der wir "die Realität für eine Werbepause halten werden." Prunkstück seiner Filmbeispiele war eine frühe Episode der TV-Serie >Twilight Zone<, in der ein junger, von Flugangst geplagter William Shatner – später Star Trek-Commander Kirk – in zehntausend Metern Höhe mit einem vermutlich(?) halluzinierten Alien kämpft. Inzwischen haben wir uns alle in einer medialen "Twilight Zone" mit ihren phantastischen Raum-Zeit-Koordinaten eingerichtet.

Gewicht und Ausstrahlung des Sonderprogramms drohten, wie schon in früheren Jahren, das Herzstück des Festivals, den Wettbewerb deutscher und internationaler Kurzfilme, zur Nebensache zu machen. Wer sich jenem widmete, musste auf diesen verzichten. Dabei boten auch die Wettbewerbsfilme reichlich Gelegenheit zur Beobachtung medialer Formen der Zeitgestaltung. So schon der Gewinner des Großen Preises der Stadt Oberhausen, >Der Weg zum Nirwana< von Mait Laas aus Estland, der teils naiv, teils surreal und im Wechsel filmischer Techniken eine esoterische Reise nachzeichnet, in der sich das Außen als ein Element ineinander verschachtelter Innenwelten erweist, die sich zum Schluss als Chimären der Zeitillusion auflösen. Unbequemer war schon die Leere, die die Südkoreanerin Gina Kim in ihrem Videotagebuch >Morning Becomes Electric< sich ausbreiten ließ, Ausdruck einer der Einsamkeit verfallenden Emigrantin, der nur das Ritual stilistischer Strenge Fassung verlieh.

In dem immerhin mit dem arte-Preis für den besten europäischen Kurzfilm und einer Lobenden Erwähnung der Ökumenischen Jury ausgezeichneten ungarischen Beitrag >Tag für Tag< von Kornél Mundruczó entlädt sich die Spannung sinnlos verfließender, gleichsam aufgestauter Zeit in einem Mordanschlag aus dem Nichts. In einem an Kieslowski erinnernden Szenario lungern Jugendliche zwischen hingewürfelten Containerblocks herum, verwahrlost und sich selbst überlassen, befummeln sich wie nebenbei oder schlagen sich, bis sich statt einer leeren Mauer ein Zufallspassant als Zielscheibe ihrer selbstgebastelten Brandsätze anbietet. Nackter als in diesem präzise entwickelten Spielfilm war soziales Elend nur noch in einem anderen osteuropäischen Film zu besichtigen: >Mama<, einem Dokumentarfilm von Oksana Auruskeviciene. In einer vergammelten Bruchbude, die hierzulande Obdachlose verschmähen würden, bildet die Jagd auf Kakerlaken den Höhepunkt eines Kindheitstages – eine vitale Turbulenz, die den wackligen Hausrat in Trümmer zu legen droht.

Diesen extremen, bei aller Ereignislosigkeit dramatischen, auch empörenden Situationsbildern ganz entgegengesetzt ist eine Zeitmeditation wie Matthias Müllers >Nebel<, der im deutschen Wettbewerb gezeigt wurde. Zu späten, wunderbar schlichten Gedichten Ernst Jandls hat Müller Alltagswahrnehmungen, Erinnerungsfragmente, Zufallsbilder gefunden, die uns in die Gedächtnis-Kammern des Films wie des träumenden Subjekts ziehen. Und auch einer der wenigen, in Oberhausen immer wieder vermissten Animationsfilme fügte sich in den Horizont des Mottos „Out of Time.“ >The Boy Who Saw the Iceberg< von Paul Driessen ist eine kanadische Variation des Themas „End of Time“, eine Kurzfilmversion der >Titanic< und erheblich komischer als James Camerons Rührstück. Auf einer geteilten Leinwand entwickelt der Film zwei Parallelversionen der Geschichte, aus der Perspektive eines mal wachen, mal wild träumenden Jungen. Und entlässt uns mit der bitteren Pointe, dass auch der Träumer untergeht.