Rückzug und Rückblick

Filme der Berliner Filmfestspiele 1999


„Ich habe einen Stummfilm gemacht als Strafe dafür, daß ich zuviel rede,“ sagte Aki Kaurismäki, einer der Lakoniker des Kinos, nach der Premiere seines Films „Juha“ im Gespräch mit Ulrich Gregor. Seine Bußübung fand den Beifall des Publikums. Dennoch, wenn im Internationalen Forum des jungen Films die Vergangenheit des Kinos beschworen wird, drängen sich die Fragen auf der Zunge. Und dahinter die Antworten. Mit dem Murnaus „Sunrise“ verwandten Melodram über den Bauern Juha, dessen Frau Maria von einem Lebemann aus der Stadt verführt und in ein Bordell verschleppt wird, belebt Kaurismäki nicht allein die Stummfilmkunst des Erzählens in Bildern, das Spiel der bedeutungsvollen Blicke und Gesten, der symbolischen Requisiten und zeichenhaften Räume. Er gibt auch die Suche nach einem Ausdruck für die Gegenwart auf zugunsten eines archetypischen Modells, das in der in Finnland populären und 1920 zum ersten Mal von dem Garbo-Entdecker Mauritz Stiller verfilmten Romanvorlage von Juhani Aho ins 18. Jahrhundert, von Kaurismäki in die späten fünfziger Jahre projiziert wird. Auch an den sparsam verwandten Insignien der Nachkriegsmoderne, den technischen Gebrauchsgegenständen wie Rasierapparat und Telefon ebenso wie den blinkenden Fetischen des Luxus, ob amerikanisches Cabrio oder Leuchtreklame, haftet bereits die Patina des Altmodischen. Dazu spielt das Kinoorchester - live bei der Uraufführung, auf der Tonspur für die Kinoauswertung – einen Sound zwischen sentimental und schräg, zwischen Schlager und Stimmungsbild: je nachdem süßlich oder schroff.

Man kann „Juha“ zunächst als Aki Kaurismäkis Antwort auf die Event-Kultur verstehen – eine Geste des Widerspruchs gegen das gedächtnislose Präsens der aktuellen Kinohits, wunderbar verschmitzt, melancholisch, kunstsinnig und kinoselig. Er schöpft aus jener Tradition, die gerade die kleinen Leute zu übergroßen Leinwandhelden machte, Dostojewskis Erniedrigte und Beleidigte, die wir heute, soziologisch infiziert, in den vielfach Marginalisierten wiedererkennen. Ihnen stand Kaurismäkis Kino schon immer zur Seite: In seinen blassen, zum Übersehen bestimmten Frauenfiguren, die wieder und wieder von seiner Lieblingsschauspielerin Kati Outinen verkörpert wurden, haben sie eine unvergeßliche Gestalt gewonnen. In „Juha“ ist es das geschmeidige Lügengewebe eines geschenkten Schals, das sie ins Unglück verstrickt, schöner – und zufälliger als je zuvor. Das Kinomelodram neigt zur Kolportage, und diesmal hat sie auch Kaurismäki, dessen Katastrophen sonst immer leise waren, erwischt. Vielleicht gerade deshalb, weil er sich durch die unzeitgemäße Stilisierung zu einem lauteren Pathos berechtigt fühlte. Mit der Axt geht Juha auf den Verführer los, aus Schußwunden blutend streckt er ihn nieder, schleppt sich auf eine Müllkippe und stirbt. Maria und ihr Kind, ganz die klassische Ikone, überleben. Die Stimme ist weg, und die Bilder schreien. Stilgerecht.

Für die Cinéphilen, die darin die zahllosen Echos der Filmgeschichte wahrzunehmen vermögen, ist Kaurismäkis Pastiche, seine „Strafe“, gewiß ein Genuß. Und sie mögen mit dem Regisseur auch den Wunschtraum teilen, daß die wortentschlackten Bilder, die Einheit von Zeigen und Erzählen, im Kino der Gegenwart unseren Blick wieder ernüchtern und, statt die Sehnsucht nach anderen Welten zu wecken, uns für die Nöte und Verheißungen der eigenen Welt die Augen öffnen. Wer weiß schon so genau, was in der Wahrnehmungsökonomie des Kinos ein einzelner Film bewirken kann. Wenn man sich jedoch bei Kati Outinens verlorener Unschuld eher an „Broken Blossoms“ von D. W. Griffith erinnert fühlt als, zum Beispiel, an das gerade blühende Ost-West- Geschäft der Prostitution, dann dominiert den Film eben doch die museale Reminiszenz. Kaurismäki, der Anwalt des schäbigen und beschädigten Lebens, ein poetischer Minimalist aus Schamhaftigkeit, führt uns eine vergessene, gerade in ihren Beschränkungen ausdrucksvolle Kunst vor Augen. Aber den Weg von der verlorenen zur wiedergefundenen Zeit hat er nicht entdeckt. Warten wir auf seinen nächsten Film.


Beschränkungen in der Absicht, das Kino kreativ zu beleben, haben sich auch die Regisseure auferlegt, die das Manifest „Dogma 95“ unterschrieben haben. Nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“ und Lars von Triers „Idioten“ war in Berlin der dritte Dogma-Film zu sehen, „Mifune“ von Søren Kragh-Jacobsen. Wieder gibt es ein Fest, eine Hochzeit, mit Trinksprüchen, klingenden Gläsern und falscher Heiterkeit, wieder stellt ein Idiot die Alltagsvernunft in Frage. Wieder schwanken Handkamera und Lichtverhältnisse je nach natürlichen Bedingungen. Die Repliken auf seine Vorgänger wecken anfangs den Verdacht, Kragh-Jacobson habe die schnellste Satire auf das Dogma-Konzept im Sinn gehabt. Aber es kommt, zum Glück, alles ganz anders. „Mifune“ beweist nicht weniger, als daß aus der Dogma-Ästhetik auch eine Komödie entstehen kann – die lustvollste Form, die Welt anders zu sehen. Schon wenn die großbürgerliche Braut im Hochzeitsbett so rekordverdächtig hemmungslos und ausdauernd zur Sache geht, daß dem derart traktierten und in jeder Hinsicht plattgebügelten Aufsteiger Kresten nur noch ergebenes Ausharren bleibt, wird aus der provozierenden Sex- eine brillante Slapsticknummer.

Der Morgen danach und die nächste erzählerische Kehrtwendung ruft Kresten zu seinem gestorbenen Vater, in das elterliche Bauernhaus und zu seinem jetzt verwaisten, geistig zurückgebliebenen älteren Bruder zurück. So wunderbar verwildert wie Hof und Garten und ganz unmöglich in Kürze nachzuerzählen entwickelt sich der Film weiter, bringt Momente der Gewalt, Gemeinheit und bitterer Einsamkeit ins Spiel und rettet sich und seine immer wieder absturzgefährdeten Figuren zuletzt in ein dänisches Idyll, mit einer Prostitutierten, die den Demütigungen ihrer Freier und Zuhälter, und ihrem Sohn, der den Schikanen der Heimerziehung entflohen ist, als familiärer Komplettierung des ungleichen Bruderpaars. „Mifune“ traut ihnen ein Leben jenseits der Instutionen und jenseits der sozialen Aufstiegs- und Untergangskarrieren zu – und sich selbst ein Kino jenseits der dramaturgischen Regeln, stilistischen Konventionen und eingeübten Zuschauererwartungen. Ein Kino, auf das kein Verlaß ist, und uns stattdessen ein Vorgefühl der Freiheit schenkt.

Nicht nur im Sinne einer Wiederholung der Kinogeschichte, für die auch Gus von Sants schon vor Berlin gestartetes Hitchcock-Remake „Psycho“ ein Beispiel bietet, zog das Festival den Zuschauer immer wieder in Begegnungen mit der Vergangenheit hinein; ein Aufbruch wie in „Mifune“ blieb die Ausnahme. So widmete sich eine beträchtliche Anzahl von Produktionen der Zeit des Nationalsozialismus und der Shoa. Freilich begnügten sich die meisten mit einem Vergangenheitsbezug, der sich im Inhaltlichen erschöpft und von den Mühen der Erinnerungsarbeit nichts weiß. Das begann schon mit dem Eröffnungsfilm des Festivals, Max Färberböcks „Aimée und Jaguar“, gepriesen und ausgezeichnet für seine beiden Hauptdarstellerinnen Maria Schrader und Juliane Köhler, die einer amour fou zwischen der unter einer falschen Identität befristet Schutz findenden Jüdin Felicie Schragenheim und der braven Hausfrau und Nazi-Anhängerin Lilly Wust im Berlin des Jahres 1943 Gestalt geben – mit Leib und Seele, gewiß. Aber für die historische Dimension ihres Schicksals, das Felicie nach Theresienstadt und in die Vernichtung führte, hat der Film jenseits von Kostüm und Kulisse keinen Sinn; sie schrumpft zur privaten Tragödie. Das ist immer noch weit mehr als sich von dem mit nationalen Filmpreisen überhäuften spanischen Beitrag des Wettbewerbs, „Das Mädchen deiner Träume“ von Fernando Trueba sagen läßt. Für sein Spiel im Spiel, die Dreharbeiten eines spanischen Filmteams in den Ufa-Studios von Babelsberg 1938, beruft er sich auf keinen Geringeren als Lubitsch und dessen „Sein oder Nichtsein“. Die Reklame gilt in Wahrheit einer mal sentimentalen, mal schmissigen Klamotte mit einem Goebbels als lüsterner Charge.

Spurlos vergessen scheint die einst wie selbstverständlich bewußte Herausforderung, die die nationalsozialistische Vergangenheit für die Darstellungsmittel des Kinos bedeutete, die Skepsis gegenüber den Mechanismen der Identifikation und der Einfühlung, die Zurückhaltung vor der Fiktionalisierung einer Zeit, die unvermeidlich Fragen nach den Grenzen von Anschauung und Begriff, von Erzählung und Bild aufwirft. Gerade die Spannung von Ästhetik und Moral hat Regisseure und Autoren zur Suche nach nichtkonventionellen, antitraditionalistischen Formen der Inszenierung und erzählerischen Konstruktion veranlaßt. Unvermeidlich, das gilt nicht mehr. Inzwischen sortiert eine selbstgewisse Moral wieder die Guten und die Bösen, und eine Pädagogik der Erinnerung schiebt ästhetische Skrupel beiseite. Vermutlich gilt die noch im Zeichen jener Spannung stehende Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin dem Zeitgeist schon als unverständlicher Spezialistenstreit. Jedenfalls soweit er sich in den Massenmedien und in der populären Kultur artikuliert.

Es bleibt noch die Zuflucht des Dokuments, dem das Kino ein eigenes Gedächtnis-Arsenal eröffnet hat. Mit „The Last Days“ von James Moll stellte das Festival ein aus Steven Spielbergs „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“ entstandenes Kinoprojekt vor, eine Chronik der Vernichtung der ungarischen Juden, montiert aus Archivmaterial und Interviews mit fünf Überlebenden. Die Zerstörung persönlicher Lebensläufe und die Zeugnisse des historischen Massenmordes fügen sich bruchlos ineinander. Der bedrückenden Wirkung des Films kann sich wohl nur ein Monster der Empfindungslosigkeit entziehen. Wie Spielberg selbst in „Schindlers Liste“ setzt Moll am Schluß der Bitterkeit der Erinnerung das Glück des Entronnenseins entgegen: eine neu erkämpfte Nachkriegsbiographie, die Bedeutsamkeit der Zeugenschaft, die Gründung von Familien und den Trost der Nachkommen. Zwiespältig bleibt diese wiederum private Wendung, ebenso realistisch wie unzulänglich. Sie gehört zur Wunschökonomie des Kinos, aber sie befriedigt nicht unser trostloses Wissen.

Seinen Ansprüchen genügte noch am ehesten der Film von Volker Koepp, „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“, einer der schönsten und melancholischsten im Programm des Berlinale-Forums. Überlebende sind auch die Titelfiguren, zwei Juden aus Czernowitz – und Heimatlose in ihrer eigenen Stadt. Wenn Koepp die Reste des Gemeindelebens beobachtet, haben religiöse Rituale und praktische Improvisationskunst einen Hauch von Heroismus ebenso wie von Gespensterhaftigkeit. Der Film will nichts erklären, er hält sich an das, was sich vor der Kamera ereignet. Und doch: Wenn der siebzigjährige Herr Zwilling und die neunzigjährige Frau Zuckermann, meine persönliche Heldin des Festivals, sich Abend für Abend über Alltagsbeschwernissen und Weltbetrachtungen zusammenfinden, verkörpern sie mit ihrem trockenen Witz und ihrem Pessimismus, ihrem Erinnerungshorizont und ihrer gebildeten Aufgeklärtheit die ganze untergegangene ostjüdische Geisteswelt. In Frau Zuckermanns Resumée paßt die Vergangenheit in einen einzigen Satz. „Neunzig Jahre in diesem zwanzigsten Jahrhundert – was für eine Bilanz.“ So fragmentarisch und so umfassend kann ein einziger Moment des Kinos sein.