Reiche Ernte beim 53. Filmfestival Mannheim-Heidelberg

"Das Leben ist ein Scherbenhaufen, und im Geschichtenerzählen setzen wir die Stücke zusammen". Mit diesem Satz umriss "Heimat"-Regisseur Edgar Reitz, der neben Wim Wenders zum "Master of Cinema" gekürt wurde, sein Programm, dem sich auch das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg verpflichtet fühlt. Zum 53. Mal waren junge Filmemacher eingeladen. Sie haben viel zu erzählen. Bei der Preisvergabe am Samstagabend - der Auslese aus 22 sehr unterschiedlichen Beiträgen aus 23 Nationen - ging eine ganze Reihe preiswürdiger Werke leer aus - ein Schönheitsfehler, wenn die Premieren-Ernte eines Jahres wie dieses Mal besonders gut ausfällt.

Krieg, mafiöse Strukturen, Drogen, Gewalt, liebloser Sex - es ging beim Festival der beiden badischen Städte immer wieder ums Überleben in vermintem Gelände, nicht nur in militärischen Krisengebieten, auch im Rotlichtmilieu und in ganz normalen Familien. Zugleich richtet sich die Hoffnung auf die Zukunft: Nie waren in einem internationalen Spielfilmprogramm so viele Frauen zu sehen, die ihr (meist ungewolltes) Baby unbedingt behalten wollen oder beharrlich nach ihrem verlorenen Kind suchen. Nicht von ungefähr räumten in diesem Jahr Regisseurinnen die wichtigsten Preise ab. Gleich acht stellten sich neben 14 Männern der Konkurrenz (das reichlich bestückte Rahmenprogramm nicht mitgerechnet).

Den Großen Preis 2004 nahm die durch Mannheim schon bekannt gewordene Norwegerin Mona J. Hoel mit, nicht ganz programmgemäß, denn eigentlich sind nur der erste oder zweite Spielfilm zugelassen. Ihr dritter Film "Salto, salmiakk ok kaffe" mixt haarsträubend abgefahrene Geschichten: Ein Ehemann lässt seine hochschwangere Frau mittellos zurück, die darauf einen Ladenbesitzer namens Jesus überfällt. Die Oma klaut, säuft und verleitet das junge Mädchen, dass für sie Einkäufe besorgt, zu Medikamentenmissbrauch. Die Jugendlichen legen sich mit einem Dealer an. Gegen Ende landen alle mehr oder minder beschädigt im Krankenhaus und zum Schluss gibts ein rundum rührendes Happy End.

Das klingt nicht nach Komödie, ist aber eine, überdreht, manchmal geschmacklos, laut und ausgezeichnet fotografiert. Von fünf Schilderungen des Geburtsvorgangs im Wettbewerb gibt dieser Film die krasseste ab.

Im bulgarischen Beitrag "Mila ot Mars" kommt ein Kind zum orthodoxen Weihnachtsfest zur Welt. Die alten Frauen, die sich in ihrem kriegszerstörten entlegenen Dorf um die ihrem Zuhälter entflohene junge Mutter kümmern, geben ihm den Namen "Christo". Nicht allein weil es "mit Motiven aus der christlichen Tradition spielt", erkannte die ökumenische Jury dem "vielschichtigen Erstlingswerk" von Zornitsa Sophia, das auch den Rainer-Fassbinder-Preis der Internationalen Jury erhielt, ihren Preis zu. Sie würdigte vielmehr die einfühlsame, durchaus auch humorvolle Beschreibung, wie hier eine seelisch beschädigte junge Frau in einer ungewöhnlichen solidarischen Gemeinschaft gesundet, und fand "die Bildkomposition, Montage und schauspielerische Leistung überzeugend".

Das ließ sich vom einzigen deutschen Beitrag leider nicht sagen. "Folge der Feder", der Berliner Abschlussfilm der 30jährigen gebürtigen Türkin Nuray Sahin, reißt zwar die Probleme der hierzulande ahnungslos an wildfremde Landsleute verheiraten jungen Frauen an. Er verschenkt sein aktuelles Thema dann aber an magische Kleinmädchenträume vom vorherbestimmten deutschen Märchenprinzen. Gleichwohl (oder deshalb?) errang dieser in jeder Hinsicht unausgegorene Beitrag die Herzen des Publikums.

Der zweite Zuschauer-Favorit wurde jedoch auch von der Hauptjury lobend erwähnt und von der Cinema-Jury zu Recht fürs Kino vorgeschlagen: In der absurden Komödie "Der graue Lastwagen ist rot" (Sivi kamion crvene boje) des aus Sarajevo gebürtigen Spielfilm-Neulings Srdan Koljevic kutschiert ein farbenblinder titotreuer Trucker eine kratzbürstige Schwangere ungerührt mitten durch Feindesland nach Dubrovnik. Der grimmige Humor dieses Werkes macht schaudern, wenn sich ein Kanonenrohr direkt auf den Kinosaal richtet, ehe der Truck in die Luft fliegt. Hier ist das märchenhafte Filmende keine Ausflucht, sondern bitteres Fazit.

Vom Krieg zerstörte Landschaften und traumatisierte Menschen prägten das Programm vom ersten Tag an. In dem von ZDF und Arte mitfinanzierten portugiesischen, sehr elegischen Spielfilm "A Costa dos murmurios“ (Die stille Küste) rührt Margarido Cardoso nach Dokumentarfilmen über Mosambik erneut an ein Tabuthema ihrer Heimat: Sie demaskiert aus der Sicht einer frisch angekommenen Offiziersgattin die Brutalität und rassistische Blindheit der dortigen Kolonialherren Ende der 60er Jahre - trotz des Zeitabstands ein aktuell anmutender, politisch brisanter Filmbeitrag.

Von den Lügen in Zeiten des Krieges und von der (Fast-)Unmöglichkeit, den Mechanismen wechselseitiger Manipulation zu entgehen, handelt auch der erste Spielfilm "Nema Problema" des 50jährigen Italieners Giancarlo Bocchi, eines ehemaligen Kriegsberichterstatters und Dokumentaristen. In der Geschichte vom Journalisten, der, von einem jungen idealistischen Kollegen und einem zwielichtigen Dolmetscher begleitet, einen bosnischen Kommandeur und die ganz große Story sucht, sah die Ökumenische Jury einen indirekten Appell, die Wahrheitssuche als "bedingungslose Sorge der Demokratie" zu erkennen (Lobende Erwähnung).

Aus der Wettbewerbs-Reihe von erschreckend vielen Filmen über seelisch verkrüppelte Menschen sei hier zum Schluss noch ein Film erwähnt, der in Männergruppen für heiße Diskussionen sorgen könnte. In "Dag og Nat" vermittelt der dänische Jungregisseur Simon Staho das Psychogramm eines Architekten, der morgens in der heimlichen Absicht, den Tag mit seinem Selbstmord zu beenden, mit dem Auto aufbricht, um von allen ihm Nahestehenden Abschied zu nehmen, dabei aber auch mit Fremden zusammentrifft. Die weitgehend auf die klaustrophobische Enge des Fahrzeugs beschränkte Kamera registriert in vielen Episoden Versuche und Scheitern mitmenschlicher Begegung. Der Schluss verneint die Möglichkeit einer Umkehr - einer durchaus denkbaren anderen Lösung ist Staho als Mitautor ausgewichen.

In den Kinopausen monierten Kritiker angesichts der frappierenden Häufung bestimmter Themen, da habe die Auswahlkommission sich wohl das Passende zusammengesucht. Schwerlich anzunehmen, denn Mannheim-Heidelberg, neben Berlin das älteste deutsche Festival, ist wie die Hauptstadt-Konkurrentin auf Premieren spezialisiert, und dieser Markt ist eng und heiß umkämpft. Die jungen Regisseure und Regisseurinnen, auch die von weniger geglückten Filmen, wühlen offensichtlich in der Asche des Weltgeschehens und klauben mit Bedacht die Scherben heraus, die sie, aus welchen Motiven auch immer, für ansehenswert halten. Das ist ein gutes, ein hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft des engagierten Kinofilms.

(Erweiterte und überarbeitete Fsassung eines Beitrags aus dem SÜDKURIER Konstanz vom 29. November 2004)