Bericht vom 56. Filmfestival Locarno. Von Charles Martig


Die pakistanische Regisseurin Sabiha Sumar hat für ihren Film Ayeshas Schweigen (Khamosh Pani) am 56. Filmfestival von Locarno den Preis der Ökumenischen Jury erhalten. Sie wurde auch mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet und hat damit grosse Anerkennung für ihr engagiertes Sozialdrama erhalten. Der internationale Wettbewerb zeichnete sich stark durch soziale und religiöse Themen aus. Für seine Sozialkritik im Film erhielt Ken Loach den Ehrenleopard.

Die Geschichte Pakistans, seine Teilung im Jahr 1947 sowie die Militärherrschaft Ende der siebziger Jahre mit der Umwandlung in einen islamischen Staat, wird im Erstlingswerk von Sabiha Sumar neu aufgerollt. Sie erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Frauen, die zu Zehntausenden vertrieben und verschleppt wurden. Viele sind bei der Teilung des Landes und der gewaltsamen Abgrenzung von Muslimen und Sikh ums Leben gekommen. Die Familienoberhäupter forderten ihre Frauen zum Sprung in den Dorfbrunnen auf, um die Ehre der Familie vor dem Ansturm der Feinde zu retten. Ayeshas Schweigen erzählt vom Schicksal einer Überlebenden, ihrem Trauma und ihrer bitteren Erkenntnis, dass ihr Sohn sich fundamentalistischen Kreisen zuwendet und die Vergangenheit der Mutter nicht ertragen kann. In der Begründung der Jury heisst es, dass der Film am Beispiel der beiden Frauen Aïcha und Zoubida mit grosser Sensibilität zeige, wie Religion menschliches Leben in Gemeinschaft fördere, aber genauso gut benutzt werden könne, um Zwietracht und Angst zu säen. Die Jury hat sich bewusst auf die Beziehung zwischen den beiden Frauen konzentriert und die offene Kritik am Fundamentalismus in Pakistan vermieden.


Suche nach Gott

Kontrapunkte bildeten die südkoreanische Meditation Frühling, Sommer, Herbst, Winter... und Frühling und die Suche nach Gott im Bilddiskurs Böse Zellen.

Das Nachwuchstalent Barbara Albert, bei uns vor allem durch den Film Nordrand bekannt, geht in Böse Zellen dem Wechselspiel von Chaos und Ordnung nach. In einem verwirrenden Spiel von Beziehungsfragmenten zeigt sie Menschen in einer kalten, beziehungsunfähigen Welt. Konsumismus und Egoismus sind die prägenden Kräfte. Religiöse Motive sind in Chorgesängen, im erleuchteten Bild eines unschuldigen Mädchens und als spiritistische Sitzung von Jugendlichen präsent. Die Grundbewegung der Kamera sucht nach den Kräften des Schicksals im Chaos. Dieses spielt den Figuren übel mit und doch scheint eine verborgene Ordnung hinter dieser bruchstückhaften Welt zu liegen.


Neben diesem ambitiösen und formal möglicherweise gescheiterten Werk stand Frühling, Sommer, Herbst, Winter... und Frühling, die buddhistische Meditation über Kim Ki-duks Kreis des Lebens. Streng in Jahreszeiten gegliedert und in malerisch vollkommenen Landschaftsaufnahmen erzählt der Film von den Verstrickungen eines Kindes in das Leid der Welt. Stationen seines Lebens sind die erste Liebe, seine verrückte, leidenschaftliche Mordtat als Erwachsener und die Hinführung zum Zustand der Erleuchtung.

Hier befinden wir uns in einem Werk von äusserster formaler Vollendung. Vergleichbar mit der Intensität von Warum Boddhidharma in den Orient aufbrach? (Bae Yong-kyun, Südkorea 1989) geht es im südkoreanischen Film um eine Parabel aus dem Geist des Zen-Buddhismus. Ein Meister lehrt seinen Schüler mit äusserst unkonventionellen Methoden, was Leiden an der Welt und Befreiung aus dem Anhaften bedeutet. Unvergesslich ist die Szene, in der der Meister mit einem Katzenschwanz das Prajnaparamita-Sutra, den Lehrtext der höchsten Weisheit, auf den Holzboden des Tempels schreibt und den Schüler auffordert, diese Zeichen mit der Mordwaffe aus dem Boden zu schnitzen und dadurch inneren Frieden zu finden. Nach der Vollendung des Kreises wird der Schüler selbst zum Meister und ihm wird ein Kind anvertraut. Theologisch ist der Film eine Herausforderung für die christliche Gnadenlehre, kann aber - trotz seiner universellen Bildsprache - eigentlich nur aus zen-buddhistischer Perspektive wirklich Sinn machen.


Satire und Gebet

Es gibt Situationen im Leben, in denen nur noch beten oder lachen hilft. So geht es auch dem bosnischen Regisseur Pjer Zalica, der die verfahrene Nachkriegssituation in seinem Heimatland mit den Mitteln der Ironie zeigt. Dabei schreckt er in Es brennt! (Gori vatra) auch vor der Satire nicht zurück. Ein von Korruption, Kriminalität und ethnischem Hass geprägtes Dorf versucht sich an den Zustand des Friedens zu gewöhnen. Durch den angekündigten Besuch des amerikanischen Präsidenten entsteht eine umtriebige Atmosphäre. Schnell wird die allgegenwärtige Korruption ausgeräumt, Menschenhandel und Prostitution vertuscht und das Dorfbild aufpoliert. Doch die Toten, gefallene Soldaten im Krieg, kehren zurück und rächen sich für ihre Verdrängung. So platzt der Traum des Bürgermeisters durch den aberwitzigen Selbstmord eines Kriegsveteranen, der das Feuer wieder aufflammen lässt, und der amerikanische Präsident verschwindet so schnell wie er gekommen ist. Ironie, Klamauk und Trauer vermischen sich zu einer skurrilen Beschäftigung mit den Geistern des Kriegs und des Friedens.


Die ironische Brechung als Rettungsanker verwendet auch der Rumäne Calin Netzer in seinem Sozialdrama Maria, das den Spezialpreis der internationalen Jury erhielt. Die in blassfarbenen Bildern erzählte Elendsgeschichte der siebenfachen Mutter Maria, die in ihrer Verzweiflung in die Prostitution getrieben wird, enthält neben dem beklemmenden Sozialdrama auch Elemente absurden Humors: Wie der spielsüchtige Ehemann seine Arbeit verliert und im Suff die letzten Ersparnisse der Familie durchbringt, ist witzig erzählt und gibt dem Geschehen einen Hauch von Emir Kusturicas Filmen.


Im internationalen Videowettbewerb war ein besonders provokativer und anregender Film von Ulrich Seidl zu sehen. In Jesus, du weißt beten sechs gläubige Menschen in einer katholischen Kirche zu Jesus, dem Allwissenden und Allmächtigen. Ihre Anliegen tragen sie reumütig oder lobpreisend vor, immer mit einer Spur von Verhaltenheit und Dankbarkeit; in den strengen und statischen Einstellungen des Filmes. Hier werden wir als Publikum Zeugen von intimsten Dramen, Schuldverstrickungen und Beziehungskonflikten. Und ständig stürzt uns der Film in den Zwiespalt zwischen menschlicher Neugierde und der Scham vor dem Eindringen in die religiöse Intimsphäre dieser Menschen. Für diese katholischen Gläubigen ist das Gebet die Lösung für ihre Lebensprobleme, ein Ort der Heimat und Aussprache mit Gott. Immer auch merkt man, dass es hier auch um Formen der Selbstinszenierung geht. Das Gebet ist ein rhetorischer und liturgischer Gestus, der sich in der Sprachformel "Jesus, du weißt..." kristallisiert. Dem Film geht eine kurze Lobpreisung von drei Gläubigen voraus. Sie beten inbrünstig für den Erfolg des Filmes und für ihr missionarisches Ziel, das Gebet als Zugang zum religiösen Leben wieder in der Gesellschaft zu verankern. Dabei stellt Seidl seine Charakteren nicht einfach bloss, wie er es in Hundstage oder Hundeliebe tat, sondern rahmt die Gebetsituationen mit Choralgesängen und ordnet sie dem kirchlichen Sakralraum zu. Der Film provoziert Fragen, die ihn für die Diskussion über Sinn und Zweck des Gebetes anregend machen. Sechs christliche Frauen und Männer offenbaren ihr Verhältnis zu Gott und zeigen damit etwas skandalös Unantastbares: ihren Glauben.


Ehrenleopard für soziales Engagement

Ken Loach wurde für sein soziales Interesse im Film mit dem Ehrenleopard ausgezeichnet. Er ist im Lauf seiner Karriere vom engagierten Aussenseiter zum gefeierten Vertreter des britischen Kinos geworden. In seinen Filmen stellt er verdrängte Realitäten dar: Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, Jugendkriminalität und Entfremdung. Er erzählt vom Alltag der Arbeiterklasse und bringt ihre Wahrnehmung ins Kino. Er hat bereits mehrere ökumenische Preise an internationalen Filmfestivals gewonnen. Sein Engagement, das im innersten Kern sowohl ein sozialistisches als auch ein christliches ist, hat auch in seinen heutigen Werken den Stachel noch nicht verloren.

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Festivals

"Khamosh pani" (Silent Waters) der pakistanischen Regisseurin Sabiha Sumar gewann den Goldenen Leoparden und den Preis der Ökumenischen Jury beim Filmfestival Locarno 2003.