Für die 17. Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals „Visions du Réel“ in Nyon hat der neue künstlerische Direktor Luciano Barisone gegenüber dem Konzept seines Vorgängers Jean Perret einige strukturelle und programmatische Änderungen in die Wege geleitet. Dazu gehört unter anderem eine stärkere Fokussierung auf das Wettbewerbsprogramm, das neu in drei Kategorien mit je 18 bzw. 19 Filmen gegliedert ist und einen Wettbewerb von Weltpremieren, sowie internationalen und europäischen Premieren für Langfilme, mittellange Filme und Kurzfilme umfasst. Dazu gab es neben Sonderprogrammen, Fachveranstaltungen und Ateliers weiterhin die Sektionen „Premiers Pas“ (vormals „First Steps“) und „Helvétiques“. Filme, die keine Exklusivitätskriterien zu erfüllen hatten, aber als wichtige „Entdeckungen“ dem Publikum nicht vorenthalten werden sollten, wurden in der Sektion „Etat d’esprit“ programmiert. Damit war wie bisher für ein reichhaltiges und abwechslungsreiches Angebot gesorgt. Die von SIGNIS und INTERFILM erstmals 2005 eingerichtete Interreligiöse Jury konzentrierte sich auf die Sichtung und Diskussion der 19 Filme im Wettbewerb für Langfilme.
Ein weit gespannter Bogen über verschiedene Stile und Themen
Dokumentarfilme nehmen die Gesellschaft kritisch unter die Lupe, indem sie die verschiedenen Facetten menschlicher Realität mit den ästhetischen Mitteln des Kinos zur Darstellung bringen. Das diesjährige Programm des internationalen Wettbewerbs der Langfilme bestätigte diese Tendenz mit einer breiten Palette von Produktionen aus Europa, dem Nahen Osten, Nord- und Lateinamerika und Japan. Die Auswahl der Filme spannte einen Bogen über verschiedene Stile und Themensetzungen. Rückblickend lassen sich drei Linien hervorheben, die der Auswahl eine gewisse Kontinuität verliehen.
Kontrast zwischen Gegenwart und Vergangenheit
Die erste Linie umfasst jene Werke, in denen eine Suche nach den Wurzeln und dem Ursprung aufgenommen wird. Dabei spielt der Kontrast zwischen Gegenwart und Vergangenheit eine wichtige Rolle. Beispielsweise wird in „EL LUGAR MAS PEQUEÑO von Tatiana Huezo Sánchez, (Mexiko 2011) der Lebendigkeit der Natur und der Menschen in einem abgelegenen Dorf im heutigen El Salvador die von Todesangst und Grausamkeit gekennzeichnete Vergangenheit des Bürgerkriegs entgegengesetzt. Dazu setzt die 1972 geborene Filmemacherin in ihrem ersten Langfilm eine raffinierte und sensible Filmsprache ein: Die Berichte von Überlebenden und die Bilder des sich neu entfaltenden Dorflebens sind nicht synchron, aber durch die kunstvolle Verschiebung von Bild und Narration entsteht ein Raum, in dem die Zuschauenden selbst Fragmente eines Traumas zusammensetzen und Orte der Stille und der Hoffnung entdecken. Dieser ausdrucksstarke Film erhielt nicht nur den von den Schweizer Kirchen mit Fr. 5’000 ausgestatten Preis der Interreligiösen Jury, sondern auch den von der Schweizer Post mit Fr. 20’000 dotierten Grand Prix der internationalen Jury.
SONNENSYSTEM von Thomas Heise (Deutschland 2011) geht dem radikalen Kontrast zwischen einem harmonischen, vom Zyklus der Natur bestimmten Leben einer indigenen Gemeinde in einem argentinischen Tal und dem Lebensraum im unendlichen Labyrinth der Favelas nach. Hier steht die Bildsprache im Vordergrund: Die Kamera fokussiert auf feine und respektvolle Weise auf verschiedene Aspekte des Dorfes und seiner Einwohner und bewegt sich zwischen Feld, Haus, Schule und Kirche. Vielfalt und Routine, Ruhe und Bescheidenheit, Zuwendung und Tradition prägen eine Existenzform, die nicht mehr bestehen kann und viele Menschen dazu zwingt, den Weg in die Peripherie der Grossstadt auf sich zu nehmen. Die poetische Sprache wirkt keineswegs beschönigend, sondern erlaubt den scharfen, desillusionierten Blick auf die gegensätzlichen Lebensräume.
Der erste Langfilm von Andres Rump SCHEICH IBRAHIM, BRUDER JIHAD (Deutschland 2010) ist durch die Suche nach den Wurzeln und der Einbettung in religiöse Traditionen charakterisiert. In kargen und ruhigen Berg- und Stadtlandschaften begegnen sich ein syrisch-katholischer Mönch und ein Sufimeister zu Gesprächen über Gott und die Welt. Durch den menschlichen Kontakt entsteht eine Verständigung, die auf der gemeinsamen Suche nach dem Absoluten gründet und sich jenseits der unterschiedlichen Lebensführung und möglichen Konflikte entfaltet (Lobende Erwähnung der Interreligiösen Jury).
Europa: Sorge um den Verlust von Identität
Unweit des Motivs der Suche nach den Wurzeln liegt die Sorge um den Verlust von Identität, welche die zweite Linie kennzeichnet. Einige Dokumentarfilme gehen dieser Thematik mit vergleichbaren Verfahrensweisen nach. Durch das Aneinanderreihen von Räumen, in denen Zugehörigkeit und Orientierung prinzipiell verweigert werden, entstehen Bilder von einem Europa, das Züge von bedrohlichen und negativen Utopien aufweist. Gitter, Zellen, Treppen, Videokameras sowie leere, sterile, funktionale Räume werden zu Orten des ewigen Durchgangs und zum Symbol der Unmöglichkeit, Wurzel zu schlagen und sich Zuhause zu fühlen. IL CASTELLO von Massimo D’Anolfi und Martina Parenti (Italien 2011) stilisiert zum Beispiel den Flughafen Milano Malpensa zum Inbegriff des technologischen Unortes. In eine ähnliche Richtung geht ABENDLAND von Nikolaus Geyrhalter (Österreich 2011), wobei hier das Setzen von Grenzen zur Erschaffung von überschaubaren, jedoch tendenziell destruktiven Lebensräumen als ein dominantes Leitmotiv des Films eingesetzt wird.
In MERCADO DE FUTUROS von Mercedes Alvarez, (Spanien 2011) werden die unbewohnbaren und illusorischen Räume der wirtschaftlichen Spekulation mit der Wärme des von Erinnerungen geprägten Ortes des Flohmarkts kontrastiert. Während selbstgefällige Unternehmer absurde Hotel- und Gebäudepläne im Zuge des Neoliberalismus mit einer skurrilen Rhetorik zu jedem Preis zu verkaufen versuchen, weigert sich der alte Krämer, die Ware seines vollgestopften Ladens weiterzugeben und entmutig mit lustigen Ausreden seine enttäuschten Kunden (Preis „Regard Neuf“ im internationalen Wettbewerb).
Die Bedeutung der Verwurzelung in der Familie
Die dritte Linie, die in der Langfilmauswahl stark berücksichtigt wurde, sieht in der Familie einen wesentlichen Ort der Identitätsfindung und Verwurzelung. Die Familie wird beispielsweise als ein Ort des freiwilligen Sterbens im Zuge einer unheilbaren Krankheit in EPILOGUE von Manno Lassens (Belgien 2011) gezeigt. Mit einer Kamera, die den Familienangehörigen als Protagonisten sehr nahe kommt, stellt dieser Film in sehr deutlichen Bildern die aktive Sterbehilfe als eine individuelle Möglichkeit dar, die persönliche Würde zu bewahren und dem Leiden bewusst ein Ende zu setzen. Inwiefern die dabei anwesende Kamera den Vorgang beeinflusst hat und seinen Wert nicht nur als Familiendokument besitzt, sondern bei allem Respekt gegenüber den Protagonisten vielleicht eine Grenze überschritten hat, war Gegenstand von Diskussionen unter dem Publikum. Der Film erhielt eine lobende Erwähnung der internationalen Jury. In Mia Halmes Werk IKUISESTI SINUM (Forever Yours, Finnland 2011) wird die Familie zum Ort der Zuwendung und des Ersatzes. Die finnische Filmemacherin setzt sich mit den Gefühlen und Schwierigkeiten von Kindern auseinander, die in Pflegefamilien leben und dabei versuchen, die Beziehung zu den biologischen Eltern auf sehr unterschiedliche Weise zu gestalten (Grand Prix der Schweizer Post für die beste Regie).
Diesen Modellen von Familien als Orte der Verwurzelung kann man den Film RECHOKIM (Der Kollaborateur und seine Familie) von Adi Barashi und Ruthie Shatz (Israel/Frankreich/USA 2011) als Kontrast entgegensetzten. Hier werden die Zuschauer mit der hoffnungslosen Situation einer palästinensischen Familie, deren Vater Israel Informationen zugespielt hat, konfrontiert. Der Alltag der Familie ist gekennzeichnet von Hausarrest, Erziehungsanstalt, Schulproblemen, Armut und Angst. Sowohl vom israelischen Sicherheitsapparat als auch von ihren Familien fallen gelassen, versucht die siebenköpfige Familie ohne eine Aussicht auf bessere Zeiten zu überleben.
Fragen nach Nähe und Distanz
Im Allgemeinen bot das Programm des internationalen Wettbewerbs eine qualitativ gute Auswahl an Dokumentarfilmen mit interessanten Einblicken in eine lebendige, aufmerksame und engagierte Szene. Sie setzen sich mit zentralen Themen der heutigen, globalisierten Gesellschaft auseinander und warnen mit einer subtilen und sorgfältigen Filmsprache die Rezipienten vor simplen und reduktiven Antworten. Neben einigen herausragenden Produktionen gab es auch einige Werke, die dem Anspruch des Themas nicht wirklich zu genügen vermochten. Manche Filme warfen Fragen nach der Nähe und der Distanz zu den Figuren und ihrer dramatischen Situation auf. Wie weit darf der Dokumentarfilm gehen? Wie stark soll beispielsweise das Gewicht von Authentizität und fundierter Sozialkritik gegenüber dem Schutz der Intimsphäre von benachteiligten Kindern gewertet werden? Auch solche Aspekte sind ein Indiz für die Wichtigkeit des Dokumentarfilms als Ausgangspunkts aktueller Debatten unserer Zeit. Ganz im Sinne des Titels des Festivals – Visions du réel – fordern sie das Publikum auf, über die Filme und die dargestellten Realitäten auf differenzierte Weise nachzudenken. Mag unter anderem auch aufgrund des neu eingeführten Ticketsystems die Zählung der Zuschauer gegenüber dem Vorjahr tiefer ausgefallen sein, darf trotzdem behauptet werden, dass Luciano Barisone und sein Team mit ihrer Programmauswahl die Feuerprobe gut bestanden haben.