Der Festivaldirektor Luciano Barisone und sein Team präsentierten - aus insgesamt 3'500 eingereichten Dokumentarfilmen - eine Auswahl von 110 Filmen in 8 verschiedenen Programmsektionen. Die Verschiedenartigkeit wurde schon aus den Programmkategorien ersichtlich: Von den „Premiers Pas“, wo sich erste filmische Etüden von Nachwuchsschaffenden fanden, über den „Etat d’Esprit“, der auf die Entdeckung neuer Talente aus der ganzen Welt fokussierte, über ein Spezialprogramm von Filmen aus dem Libanon bis hin zur Sektion „Compétition Internationale Longs“ waren zahlreiche Entdeckungen in formaler und inhaltlicher Sicht auszumachen. Die Filme kamen aus 45 Ländern. Dabei war dieses Jahr die Präsenz der französischen und schweizerischen Dokumentarfilme mit je 24 Produktionen auffallend stark.
Wer sich auf die 19 Filme des Internationalen Wettbewerbs der langen Dokumentarfilme konzentrierte, wurde auf eine spannende Weltreise mitgenommen, auf welcher die Befindlichkeiten verschiedener Menschen, Gesellschaften und Kulturen erlebt werden konnten. Das Cinéma du Réel öffnete dem Publikum den Blick auf das Dasein von Kriegsbetroffenen im Nahen Osten (Hamdan von Martín Solá, Les Chebabs de Yarmouk von Axel Salvatory-Sinz) und auf Ausgegrenzte (Homosexuelle, psychisch Kranke, Süchtige) in der westlichen Welt (American Vagabond von Susanna Helke, Weiss der Wind von Philipp Diettrich). Zudem wurden auch Arbeitswelten in Südkorea (Buran von Hwanki Min) und den USA (Night Labor von David Redmon und Ashley Sabin) filmisch dargestellt.
Interessanterweise lagen viele Themen im Spannungsfeld von Individuum und seinem Verhältnis zum Kollektiv. Dabei haben sich Filmschaffende oft auch in einer partizipatorischen Weise in die filmische Arbeit eingebracht. In zahlreichen Dokumentarfilmen sind die AutorInnen in der Rolle der ProtagonistInnen, die als Betroffene ihren filmischen „Ort“ und die Beziehungen der Menschen untereinander untersuchen. So entdeckte man (Familien-)Geschichten von Künstlerpersönlichkeiten in Aserbeidschan (My Kith and Kin von Rodion Ismailov), Vietnam (Ba Noi von Khoa Lé), Österreich (Omsch von Edgar Honetschläger), China (Actress von Gang Zhao) und in der Schweiz (Karma Shadub von Ramon Giger und Jan Gassmann). Der letztgenannte Film zeigt einen sensiblen Blick auf das Vater-Sohn Verhältnis in der eigenen Künstlerfamilie und wurde mit dem Grossen Preis der Internationalen Jury ausgezeichnet. Die Waschküche als Ort des multikulturellen Austauschs wurde von Floriane Devigne und Frédéric Florey in La clé de la chambre à lessive in unterhaltsamer und interessanter Weise erörtert; der Film erhielt dafür den Grossen Preis der SRG SSR.
Die von INTERFILM und SIGNIS eingesetzte interreligiöse Jury, deren Fokus auf hervorragenden kinematografischen Werken mit existentiellen, sozialen und spirituellen Aspekten und menschlichen Werten lag, verlieh ihren Preis dem Schweizer Film Zum Beispiel Suberg von Simon Baumann (www.zumbeispielsuberg.ch), eine Entscheidung, die durchaus überraschte, weil sich der Regisseur weder als kirchlich noch als christlich bekannte (und als neues Mitglied des Männerchors seines Heimatdorfes trotzdem am reformierten Gottesdienst teilnahm). Sein Film ist eine schöne Parabel, wie ein Jurymitglied sagte. „Wenn die Welt ein Dorf ist, dann kann dieses einst blühende Bauerndorf, das weitgehend zu einem Schlafdorf „verkommen“ ist, wie jedes andere Dorf Symbol für eine Welt werden, in dem neue solidarische Beziehungen möglich sind.“ Damit wird der lebendige und nostalgiefreie Blick auf gesellschaftliche Veränderungen im schweizerischen Mittelland universell. Der französische Film Les Chebabs de Yarmouk von Axel Salvatory-Sinz erhielt eine lobende Erwähnung. „Der Film berührt aufgrund seiner Authentizität und seiner poetischen Sprache, in welcher das Eingeschlossensein in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien thematisiert wird. Das Werk offenbart uns die Träume und Enttäuschungen einer Gruppe von jungen Leuten, die versuchen, ihre Zweifel und Schwierigkeiten - die für eine ganze Generation stehen - mit Mut und Hoffnung zu begegnen“ schreibt die Jury.
Die Erforschung der Condition Humaine in aktuellen Sozietäten schärft unsere eigene Wahrnehmung, unser Fenster zur Welt und macht uns bewusst, wie stark das Moment der Verbundenheit und der Verantwortung unser Leben prägt. Die Theologin Dorothee Sölle, deren 10. Todestag mit dem Ende des Filmfestivals zusammenfiel, nannte „die Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeit alles Seienden“ einen wichtigen Punkt in der „Spiritualität und der Umkehr“. In diesem Sinne können solche Filme Hoffnungsträger sein. Sie lassen uns nicht einfach passiv hinschauen, sondern berühren und rütteln uns auf.