Vom Streben nach Glück in der Tristesse
„Marija“ des Schweizer Regisseurs Sebastian Koch ist ein im besten Sinne zeitgenössischer Film. In realistischen Bildern einer deutschen Großstadt – die Dortmunder Nordstadt ist exemplarisch – porträtiert er den harten Alltag von Migranten, der geprägt ist von Tristesse, Gewalt, Misstrauen und auch Misserfolgen. Die Titelfigur Marija, eine Ukrainerin, ist einerseits gut vertraut mit den Gewohnheiten und Umgangsformen des Milieus, andererseits ist sie klug, empathisch und vor allem zielstrebig im Verfolgen ihres Traums vom eigenen Friseursalon.
Somit führt der Film vor Augen, wie die Orientierung an einem Ziel das Handeln eines Menschen in schwierigen Situationen sinnstiftend verändern kann. Aus stringent subjektiver Perspektive wird ein mögliches Modell eher von Selbstbehauptung als von Selbstverwirklichung entwickelt, das keineswegs optimal oder gar ideal ist. Nein, Marija verhält sich nicht immer anständig im Sinne einer konsensfähigen bzw. allgemeingültigen Moral. Sie nimmt allerdings sich ebenso wie die Menschen, mit denen sie zu tun hat, ernst, lernt, sich auf wechselnde Situationen einzustellen und eigene Interessen im Konflikt mit anderen durchzusetzen, kämpft um Anerkennung, verliert sich jedoch nicht in bloßen Projektionen, sondern bleibt realistisch. Indessen ist sie nicht so gefühlskalt, rational berechnend, wie es auf den ersten Blick scheint, sondern sie zeigt die ganze Palette von Emotionen von Angst bis Wut, Stolz und sogar Liebe.
Der Film gewährt – und das macht eben seine Zeitgenossenschaft aus – einen tiefen Einblick in die Lebenswelt der (großenteils illegalen) Migrantinnen und Migranten. Das Publikum erfährt, wie in dieser Welt gegenseitige Ausbeutung und Erpressung funktionieren, wie Abhängigkeiten, jedoch auch Loyalität entstehen, wie es auf dem Bau mit illegalen Beschäftigten zugeht, und wie beispielsweise Ärzte Patienten ohne Krankenversicherung behandeln.
Die Schauspielerin Margarita Breitkreiz spielt die Marija ohne Pathos – glaubhaft ist die allmähliche Entwicklung ihrer Persönlichkeit (quasi als „Identificazione di una donna“, um Michelangelo Antonioni zu zitieren) - nicht ohne Brüche und Widersprüche; sie kann sowohl hart als auch empfindsam, stark und verletzlich, anziehend und abstoßend, echt und falsch sein. Das Bild von ihr bleibt unfertig. Doch stets ist eine subtile, rätselhafte Art von Würde und Liebenswürdigkeit in ihr virulent. Aus dem Kreis der Schauspieler, zu dem übrigens auch Laien gehören, ragt in der Rolle von Marijas Ausbeuter, Geschäftspartner, Liebhaber oder Freund (auch dies ist nicht eindeutig) Georg Friedrich heraus. Die Szene, als er beim Fahren hinter dem Steuer Falcos „Jeanny“ singt, wird im Gedächtnis bleiben. Und vom Film „Marija“ wird die Einsicht bleiben, dass zu einem guten Leben ebenso wie zu einem anständigen Menschen sowohl passable äußere Lebensbedingungen als auch eine eigene Haltung bzw. das eigene „pursuit of happiness“ Voraussetzungen sind. Vielleicht bleibt auch die Erfahrung, wie sehr ein Lächeln vermisst werden kann.