Festivalbericht von Rolf-Rüdiger Hamacher, Mitglied der Ökumenischen Jury

"Gnade" der Titel des deutschen Wettbewerbbeitrags von Matthias Glasner könnte auch exemplarisch über einem Grossteil des diesjährigen Berlinale-Programms stehen. Die Filme thematisierten vielfach den Aufschrei der innerlich wie äusserlich geschundenen Kreatur Mensch. Mal laut, mal leise. Dann wieder voller Verzweiflung, bisweilen aber auch von Hoffnung getragen wie in Rebelle oder Cesare deve morire, dem Preisträger des Goldenen Bären und der Ökumenischen Jury. 

Dass Glasners Film, mit dem programmatischen Titel Gnade, dem Thema nicht gerecht wurde, war eigentlich vorauszusehen. Seine Filme – u.a. die schier unerträgliche Absolution eines Vergewaltigers (Der freie Wille) –  zeichneten sich immer schon durch die Abwesenheit jedweder moralischen Haltung aus. Und auch diesmal bleibt die von ihm und seinem Drehbuchautoren Kim Fupz Aakeson aufgeworfene Frage nach Gnade und Vergebung als blosse Behauptung im Raum stehen, weil Glasner einfach das inszenatorische Talent fehlt, diese existenzielle Frage filmisch umzusetzen. So muss sich seine Protagonistin Maria (Birgit Minichmayr), die gerade in dunkler, norwegischer Polarnacht ein Mädchen überfahren hat, dämliche Dialogduelle mit ihrem Mann Niels (Jürgen Vogel) liefern, um beider Schuld zu relativieren: Sie war einfach weitergefahren und er hatte beim Nachsehen nicht richtig hingesehen. Statt den inneren Konflikt der Beiden, sich der Verantwortung zu stellen oder den Unfall zu vertuschen, in den Mittelpunkt zu stellen, verzettelt sich Gnade in unnötigen Handlungsnebensträngen, wie den Pubertätsproblemen ihres Sohnes und Niels Verhältnis zu einer Arbeitskollegin. Schliesslich braucht es drei Enden, um die von den Eltern des getöteten Mädchens erlangte Gnade der Vergebung filmisch zu manifestieren – ohne dass man jemals irgendwie berührt wäre. 

Mendozas furioser Prolog verliert sich im Dschungeldickicht

Mit der gleichen unentschiedenen Haltung entführt uns der hochgelobte philippinische Regisseur Brillante Mendoza (Goldene Palme 2009 in Cannes für Kinatay) in seine Heimat, wo im Frühjahr 2001 islamische Terroristen in einem Resort 20 Geiseln nehmen und 377 Tage lang gefangen halten. Doch nach einem furiosen Prolog verläppert sich der Film Captive im Dickicht des Dschungels, weil Mendoza weder den angeblich religiös-moralischen Anspruch  der Geiselnehmer hinterfragt, noch Antworten für das merkwürdige Verhalten der verfolgenden Regierungstruppen findet. Und durch die Besetzung der im Mittelpunkt der Geschichte stehenden französischen Entwicklungshelferin Therése Bourgoine mit Isabelle Huppert bekommt der Film eine Schieflage, von der er sich nicht mehr erholt. Der Weltstar wirkt wie ein Fremdkörper in dem aus einheimischen Schauspielern und Laiendarstellern bestehendem Ensemble, zumal sie Mendoza als Gutmensch inszeniert, die dann sogar für einen der Kindersoldaten zur Ersatzmutter wird. Da werden Vergewaltigungen und Geiselerschiessungen zu Petitessen am Rande, die Mendoza genauso wenig interessieren, wie die Charaktere seiner Protagonisten.

"Rebelle" greift Dasein einer Kindersoldatin schonungslos auf  

Tiefer in die Seele der Bestie Mensch blickt da schon der in Kanada geborene Kim Nguyen, dessen vierter Spielfilm Rebelle das Thema Kindersoldaten mit einer schonungslosen  Härte aufgreift, die einem den Atem stocken lässt: Da muss die 12-jährige Komona – Rachel Mwanza wurde für ihre bewegende Interpretation mit dem "Silbernen Bären" ausgezeichnet – ihre eigenen Eltern erschiessen, um nicht selbst getötet zu werden. Fortan missbraucht sie der Rebellenkommandant als Soldat und Geliebte, bis sie sich in  den wenig älteren Magier (Serge Kanyinda) verliebt  und sie aus dem Camp fliehen. Vor allem will Komona ihre Eltern begraben, damit die ihr nicht mehr in ihren Träumen erscheinen. Diese surrealen Traumbilder bilden ein geradezu poetisches Gegengewicht zu Komonas brutalem Soldatenalltag, dem schliesslich auch der Magier zum Opfer fällt. Und doch spiegelt sich in den Tränen Komonas die Hoffnung auf ein Leben in Frieden.

Dass die Humanität auch im Alltag sogenannter zivilisierter Länder noch Nachhilfestunden braucht, zeigt der eher stille Film des uruguayischen Regisseurs Rodrigo Plá La Demora, in dem eine arbeitslose, alleinerziehende Mutter von drei Kindern, ihren dementen Vater aussetzen muss, damit er als vermeintlicher Obdachloser einen kostenlosen Heimplatz bekommt. Nur Armen steht der nämlich nicht zu. In atmosphärisch dichten Bildern zeichnet Plá die von Schuldgefühlen und körperlicher Erschöpfung belastete Zuneigung einer Tochter zu ihrem Vater nach – ein berührendes Plädoyer für mehr Mitmenschlichkeit.

Italienische Regie-Legenden überzeugen mit "Cesare deve morire" 

Um Verantwortung für die am Rande der Gesellschaft Stehenden – sei ihre Schuld auch noch so gross – geht es auch in dem mit dem Goldenen Bären und dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichneten Cesare deve morire von Paolo und Vittorio Taviani.  Nun haben die beiden italienischen Regie-Legenden nach der Goldenen Palme von Cannes (Padre Padrone) und dem venezianischen Löwen für ihr Lebenswerk das Trio der drei begehrtesten Trophäen des Films voll. Und irgendwie sind sie mit ihrem semi-dokumentarischen Cesare deve morire zu den Wurzeln ihrer puritanisch-strengen, von Laiendarstellern getragenen Frühwerke zurückgekehrt. Sechs Monate lang haben die beiden Brüder in einem römischen Hochsicherheitsgefängnis den Entstehungsprozess einer Inszenierung von Shakespeares "Julius Cäsar" gefilmt. Ohne dabei mit dem pädagogischen Zeigefinger zu winken, gelingt es ihnen, die Parallelen zwischen dem Theaterstück und der Realität herauszuarbeiten und den Protagonisten zu einer erhellenden Reise in die eigene Seelenlandschaft zu verhelfen. Die Kunst erweist sich somit gnädiger als der Mensch. Sie kann zwar nicht vergeben, aber den Samen legen für eine bessere Welt.

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