Wie ein Zátopek in glänzender Form
Exam (Ezmûn, Shawkat Amin Korki)
Ähnlich wie Cannes hat das Festival von Karlovy Vary seinen Termin verschoben, um Ende August in relativ Corona-freier Atmosphäre stattzufinden. Wer ins Kino gehen oder das Festivalzentrum betreten wollte, brauchte ein Armband, das als Impf- bzw. Testnachweis diente. Ein übersichtliches System, das problemlos funktionierte.
Selbst im Bierzelt des Festivalsponsors „Pilsener Urquell“ waren überall die Armbänder mit dem Festivallogo zu sehen. Das Zelt lag direkt neben dem Roten Teppich, täglich von 10.00 bis 2.00 Uhr nachts geöffnet. Eine ideale Ergänzung zum Filmprogramm, das sich in diesem Jahr wieder auf hohem Niveau bewegte. Überall spürte man die Freude und Begeisterung, Kino wieder gemeinsam zu erleben.
Der Eröffnungsfilm „Zátopek“ war klug gewählt und sprach dem tschechischen Publikum aus dem Herzen. Emil Zátopek war eine Sportlegende und gilt bis heute als einer der besten Langstreckenläufer aller Zeiten. Bei den Olympischen Spielen in London 1948 und Helsinki 1952 gewann er vier Goldmedaillen. Der Mann mit dem Spitznamen „die tschechische Lokomotive“, war berühmt für seinen unkonventionellen Laufstil, mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er schnaufend und keuchend an seinen Konkurrenten vorbei, ein hagerer Mann mit Halbglatze, der schon in jungen Jahren alt aussah. Mehr als sieben Jahre hat Regisseur David Ondricek an dem Projekt gearbeitet, denn Zátopeks Witwe Dana Ingrová, Speerwerferin und ebenfalls Olympiasiegerin in Helsinki, hatte sich lange dagegen gesträubt. Doch die starke Präsenz der Hauptdarsteller Václav Neuzil und Martha Issová als Sportler-Paar, das einige Krisen übersteht, konnte sie schließlich überzeugen.
Dank seiner internationalen Erfolge wird Zátopek zu einem nationalen Mythos, mit dem sich das stalinistische Regime in den Nachkriegsjahren gerne schmückt. Als erfolgreicher Sportler genießt er zahlreiche Privilegien und darf ins Ausland reisen. Doch der im Grunde unpolitische Champion eckt mit seinem Sinn für Gerechtigkeit immer wieder an und weigert sich z.B., das Flugzeug nach Helsinki zu besteigen, als man einem befreundeten Läufer die olympische Teilnahme verweigert. Neben seiner sportlichen Laufbahn macht er Karriere als Offizier, bis er sich im Sommer 1968 gegen die sowjetische Invasion stellt. Er wird aus der Armee und der Partei ausgeschlossen, zum einfachen Arbeiter degradiert und aus Prag verbannt. So erzählt der Film nicht nur die Biographie eines außergewöhnlichen Leichtathleten, sondern auch die Geschichte der CSSR in den Jahren des Staatssozialismus. Für Emil Zátopek wird das Laufen, so deutet der Film an, zu einer Form individueller Selbstbehauptung in Zeiten des Konformismus.
Als perfekte historische Ergänzung bot sich der Dokumentarfilm „Rekonstruktion einer Okkupation“ an. Regisseur Peter Sikl stößt auf Filmmaterial, das während der Besatzung durch die Truppen des Warschauer Pakts gedreht und noch nie veröffentlicht wurde. Wer waren die Menschen, die damals auf die Straße gegangen sind und den spontanen Widerstand organisierten? Der Regisseur macht sich auf die Suche nach den anonymen Protagonisten von damals und lässt sich ihre Geschichten erzählen
Familiengeschichten
In diesem Jahr hat das Festival beschlossen, im Wettbewerb Spiel- und Dokumentarfilme nicht mehr zu trennen. Eine kluge Entscheidung, die den Dokumentarfilmen die Aufmerksamkeit brachte, die sie verdienten, darunter zwei tschechische Produktionen, die zu den Höhepunkten des Wettbewerbs zählten. In „Every Single Minute“ begleitet die Regisseurin Erika Hniková eine slowakische Familie, die für ihren Sohn die perfekte Erziehung anstrebt. Angelehnt an die Kamevéda-Methode eines früheren Eishockey-Profis wird der kleine Misko von Geburt an sportlich trainiert. Dabei soll nicht eine Minute verschwendet werden. Schon beim Frühstück spricht die Mutter Deutsch mit ihrem dreijährigen Sohn, der mühelos so schwierige Wörter wie „Erdanziehungskraft“ oder „Müllverbrennungsanlage“ wiederholen kann. Mit liebevollem Druck spornen die Eltern ihr Kind mit der Stoppuhr in der Hand zu sportlichen und intellektuellen Höchstleistungen an. Kindergarten erscheint als Zeitverschwendung, Misko wird so intensiv zuhause betreut, dass die Mutter gar keine Zeit für ein zweites Kind hat. Mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen betrachtet man diese pädagogische Perfektionierung.
Einen krassen Gegensatz markiert ein weiterer tschechischer Dokumentarfilm „At Full Throttle/Vollgas“. Jaroslav hat früher als Bergmann unter Tage gearbeitet, aber sein großer Traum waren immer Autorennen auf Sandpisten. Er sucht sich die Teile auf dem Schrottplatz zusammen und baut seine Rennwagen selbst. Jetzt ist er Mitte 50, er hört nicht mehr gut und hat zu hohen Blutdruck, um selbst zu fahren. Nun sitzt seine Freundin Jitka am Steuer und er sagt ihr, worauf sie achten muss. Stress gibt es, wenn sie den Wagen in den Graben fährt oder den Motor ruiniert.
Regisseur Miro Remo nimmt uns mit der Kamera mit ins Cockpit, wir erleben, wie der Matsch hochspringt und die Windschutzscheibe verklebt. Der Film kommt seinem Protagonisten unglaublich nahe, der Stress mit seiner Ex-Familie hat und ständig im Clinch mit seiner resoluten Mutter liegt, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Jaroslav sieht sich als Opfer staatlicher Bürokratie, die seine Autos reglementiert, als ein Verlierer in der Konsumwelt nach dem Ende des Sozialismus. Kein Wunder, dass wir ihn am Ende auf einer politischen Veranstaltung sehen, wo fremdenfeindliche Lieder gesungen werden. Bemerkenswert, mit wie viel Sympathie der Film die Widersprüche dieses komplexen Charakters ins Bild setzt.
Olmo Olmerzus „Bird Atlas“ konzentriert sich auf einen Gewinner des neuen Kapitalismus. Ivo, der Besitzer einer global vernetzten Fabrik für automatische Staubsauger, erleidet einen Herzinfarkt, als er erfährt, dass Rechnungen in Millionenhöhe nicht bezahlt worden sind. Wie sich herausstellt, hat die Buchhalterin das Geld unterschlagen und ist das Opfer von „Romantic Scamming“ geworden. Doch der Online-Liebhaber, der ihr Geld genommen und ihr eine romantische Zukunft versprochen hat, existiert gar. Ein Fall von gefälschter Identität. Miroslav Donutil, ein Star des tschechischen Kinos, ist großartig in der Rolle des alten Firmenpatriarchen, der von seinen Söhnen bedrängt wird und spürt, wie er allmählich die Kontrolle verliert. Vögel aller Art kommentieren den Fortgang der Geschichte, unterlegt mit chinesischen Sinnsprüchen. Mit Untertiteln für die nicht ornithologiekundigen Zuschauer!
Sehr ernsthaft und zurückgenommen wirkt dagegen das Drama „Saving One Who Was Dead/Jemanden retten, der tot war“. Der Vater hatte einen Schlaganfall und liegt im Koma, die Mutter und der Sohn besuchen ihn im Krankenhaus. Sie sprechen mit ihm in der Hoffnung, dass er sie hören kann. Aber wer weiß das schon. Die Prognose ist wenig hoffnungsvoll, aber die beiden geben nicht auf. In traditionellem 4:3 Format konfrontiert Regisseur Václav Kadernka die Zuschauer mit einem existenziellen Drama. Es gibt kaum Dialog, jedes Bild ist durchkomponiert, die Farbpalette wird bestimmt von den fahlen Creme-Tönen des Krankenhaus-Interieurs. Suzana Maréry, die vor fünf Jahren in Karlovy Vary als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde, besitzt in der Rolle der Mutter eine enorme Präsenz.
Internationale Highlights
Karlovy Vary ist nicht nur ein ausgezeichneter Ort, um tschechische und andere osteuropäische Filme zu sehen, sondern natürlich auch ein internationales Festival. Einer der cineastischen Höhepunkte des Wettbewerbs war der englische Beitrag „Boiling Point“, ein „one shot gastro drama“, wie Festivalleiter Karel Och den Film bei der Premiere charakterisierte. Andy ist Küchenchef eines angesagten Restaurants im Londoner East End. Ein hektischer Abend, der letzte Freitag vor Weihnachten, die Nerven liegen blank. Ein Inspektor des Ordnungsamts findet alle möglichen Mängel, die Service-Chefin hat wieder einmal die Reservierungen überbucht, und dann taucht auch noch unerwartet ein Starkoch in Begleitung einer Restaurantkritikerin auf. Das ist sehr kunstvoll arrangiert und in einer einzigen Einstellung gedreht.
Stephen Graham ist grandios in der Rolle des Küchenchefs, der kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht. Auch die übrigen Schauspieler agieren mit Leidenschaft und sarkastischem Humor. Ein mitreißendes Drama aus der Welt der gehobenen Cuisine. Der Regisseur Philip Barantini hat selbst als Koch gearbeitet, um sein Leben als Schauspieler zu finanzieren. Seine gesammelten Erfahrungen hat er, wie er sagte, in dramatisch zugespitzter Form in seinem Regiedebüt verarbeitet.
Von London nach Suleimaniah, in eine völlig andere Welt, führt uns die kurdisch-deutsche Produktion „Das Examen“, der sofort zum Favorit unter den Kritikern avancierte. Um einer arrangierten Heirat zu entgehen, muss Rohan die Aufnahmeprüfung für die Universität schaffen. Sie ist psychisch labil und hat schon einen Suizidversuch hinter sich. Ihre Schwester Shilan, die selbst unglücklich verheiratet ist, kontaktiert einen Geschäftsmann, der für 6.000 Dollar die Lösung aller Prüfungsaufgaben verspricht. Ein korrupter Lehrer liefert die nötigen Informationen. Per Bluetooth flüstert Shilan ihrer Schwester die richtigen Antworten ins Ohr.
Mit scharfem Blick portraitiert Regisseur Shawkat Amin Korki das Leben junger Frauen im kurdischen autonomen Irak. Es ist eine Welt, die von Männern kontrolliert wird und in der Korruption allgegenwärtig ist. Was den Film auszeichnet, ist seine nüchterne Erzählweise, ein kühler Realismus, der ohne Polemik auskommt. Die Frauen sind klüger und ehrgeiziger, die Männer verteidigen ihre traditionellen Privilegien. Aber auch die korrupten Geschäftemacher sind keine Unmenschen, sondern haben nachvollziehbare Motive für ihr Handeln. Ein großartiger Film, der vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan eine besondere Aktualität gewinnt und hoffentlich auch in Deutschland ins Kino kommt.
Deutsches Kino
Im Wettbewerb gab es überraschenderweise zwei deutsche Beiträge, was auf internationalen Festivals selten vorkommt. Dietrich Brüggemann, der zuletzt wegen seiner provozierenden Corona-Videos in die Kritik geraten war, präsentierte mit „Nö“ einen satirischen Blick auf die Lebens- und Familienplanung der Thirtysomethings und gewann dafdür den Preis für die Beste Regie. Dina (Anna Brüggemann, die zusammen mit ihrem Bruder auch das Drehbuch geschrieben hat) und Michael (Alexander Khuon) sind ein junges Paar, das zwischen großer Liebe und temporärer Trennung schwankt. Brüggemann erzählt die Geschichte der beiden in tableauhaften Episoden, die zwischen treffender Komik und überzogenem Klamauk changieren. Als Dina schwanger wird, gibt es eine urkomische Szene bei der Ultraschschall-Untersuchung mit Mark Waschke, der als ruppiger Gynäkologe im Krankenhaus zynische Kommentare zu alternativen Geburtsmethoden zum Besten gibt. Andere Szenen fallen dagegen ab. Kurz gesagt, ein Film mit Höhen und Tiefen, den man trotz einiger Schwächen gespannt verfolgt. Will man als Paar zusammenbleiben oder sich lieber trennen? „Nö!“ lautet am Ende die Antwort.
Auch „Le Prince“ von Lisa Bierwirth erzählt die Geschichte einer komplizierten Beziehung. Bei einer Polizeirazzia im Frankfurter Bahnhofsviertel lernt Monika den Kongolesen Joseph kennen. Sie arbeitet als Kuratorin im Museum für moderne Kunst, er betreibt ein Import-Export-Geschäft mit Diamanten. Irgendwann verliert er seine Wohnung und zieht bei ihr ein. Das geht nicht ohne Konflikte ab, wenn er etwa tagelang verschwindet. In ihrem Kinodebüt zeichnet Lisa Bierwith das subtile Porträt der Beziehung zwischen einer deutschen Intellektuellen und einem afrikanischen Migranten, ein multikulturelles Paar, das von Freunden und Behörden misstrauisch beobachtet wird.
Die Kamerafrau Jenny Lou Ziegel findet atmosphärisch dichte Bilder für ein Frankfurt, das man so bisher nicht auf der Leinwand gesehen hat. Die Österreicherin Ursula Strauss glänzt in der Hauptrolle, daneben überzeugt Passi Balande als Joseph. Mit Alex Brendemühl, Viktoria Trautmannsdorf und Hanns Zischler ist „Le Prince“ bis in die Nebenrollen exzellent besetzt. Ob die Liebe am Ende stärker ist als die kulturellen Differenzen, diese Frage bleibt am Ende offen.
Der Gewinner
Dass der serbische Beitrag „As Far As I Can Walk“ von Stefan Arsenijevic den Crystal Globe als bester Film und auch den Preis der Ökumenischen Jury gewann, sorgte bei der Preisverleihung für eine gewisse Überraschung. Ibrahim Koma, der als bester Darsteller ausgezeichnet wurde, spielt einen Flüchtling aus Ghana, der zusammen mit seiner Frau Ababuo in Belgrad gelandet ist. Während er als Fußball Profi reüssiert, organisiert sie Kindertheater in der Flüchtlingsunterkunft. Als sie zusammen mit zwei syrischen Kriegsflüchtlingen plötzlich verschwindet, macht ihr Mann sich auf die Suche nach ihr. Er durchläuft die klassischen Stationen der Balkan-Route, überquert bei Nacht die ungarische Grenze und findet sie schließlich in einem Lager in Ungarn wieder. Doch es gibt kein Happy End. Während er nach Serbien zurückkehrt, zieht sie weiter in der Hoffnung auf eine Karriere als Schauspielerin in England.
Auf einer zweiten Ebene wird der afrikanische Protagonist zu Strahinja, dem Helden eines serbischen Epos aus dem Mittelalter, der seine entführte Frau sucht. Nachdem sie prominent eingeführt wurde, verschwindet diese Parallele im Laufe der Geschichte allmählich aus dem Drehbuch. Der Film wirkt wie die fiktionale Rekonstruktion vielfach dokumentierter Fluchterfahrungen zwischen Serbien und Ungarn, ohne eine neue Perspektive anzubieten. Vermutlich war es das dramatische Sujet, das die Jurys beeindruckt hat.
Eine originellere Wahl wäre der bereits erwähnte Film „Every Single Minute“ gewesen, der den Versuch einer perfekten Kindererziehung dokumentiert und mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Aber hier geht es nur um einen Blick auf unseren Alltag ohne Flucht und Entbehrung. Bloß um eine kuriose Form der Erziehung mit weniger Gewicht auf der Humanismus Skala.
Was wäre ein Filmfestival ohne Stars? Karlovy Vary schafft es jedes Jahr, internationale Filmgrößen in den böhmischen Badeort zu locken. Die Presse und das Publikum sind begeistert, wenn Hollywood-Ikonen wie Michael Caine oder Ethan Hawke über den Roten Teppich schreiten. Spektakulärer Höhepunkt war in diesem Jahr der Auftritt von Johnny Depp, der etwas mitgenommen wirkte und von seinen Fans umso mehr bejubelt wurde.
Nach einer coronabedingten Unterbrechung im vergangenen Jahr präsentierte sich Karlovy Vary wieder in glänzender Form. Zäh und ausdauernd wie der legendäre Emil Zátopek. Auch in Zukunft dürfte das Festival noch einige Rekorde brechen.