Verstörende Blicke auf politische wie auf intime Zusammenhänge
Den Anfang machte Catherine Deneuve, die 1967 mit „Belle de jour“ zum ersten Mal in Venedig war und am Eröffnungsabend mit einem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde. „Solch ein Ehrenpreis ist immer eine zweischneidige Sache. Ein Signal, dass die eigene Karriere so gut wie zu Ende ist.“ Nicht so bei Catherine Deneuve, die auch mit 78 Jahren weiterarbeitet und gerade einen neuen Film abgedreht hat. Sie spielt Bernadette Chirac, die Ehefrau des früheren französischen Präsidenten Jacques Chirac. Als Sexsymbol hat sie sich nie gesehen, aber immer ihre Eleganz bewahrt, weshalb es ihr nicht schwer gefallen ist, im Laufe der Jahre ältere Frauen zu spielen.
Festivalleiter Alberto Barbera hatte in diesem Jahr eine Auswahl an attraktiven aber auch kontroversen Filmen angekündigt, die nicht die Augen verschließen vor einer Welt voller Konflikte. So gibt es im Wettbewerb eine Reihe von Beiträgen, die explizit politische Themen aufgreifen, daneben aber auch Filme, die sich mit Familienkonstellationen auseinandersetzen. Verstörende Blicke auf große wie auf intime Zusammenhänge. Gespannt ist man auf „Kehrs nist“ (Es gibt keine Bären), den neuen Film des verfolgten iranischen Regisseurs Jafar Panahi, der kürzlich verhaftet wurde. Als Zeichen der Solidarität ist für den Tag der Premiere ein Flash Mob auf dem Roten Teppich angekündigt.
Barbera sieht das Kino in einer Umbruchphase. Netflix ist einer der größten Produzenten ambitionierter Filme geworden und finanziert die Projekte renommierter Regisseure. „Das ganze System von Produktion und Verleih ist dabei, sich rasant zu verändern.“ Filmfestivals sollen Arthouse Filmen eine Plattform bieten, sagt Barbera, ihnen Aufmerksamkeit verschaffen und das Publikum neugierig machen, nach zwei Jahren Pandemie wieder ins Kino zu gehen.
Verrauschte Katastrophe: WHITE NOISE
Dementsprechend war Venedig das erste Festival, das sich für Netflix geöffnet hat. In diesem Jahr sind sogar vier Netflix Produktionen im Wettbewerb vertreten. So auch der Eröffnungsfilm „White Noise“ (Weißes Rauschen) von Noah Baumbach. In den Hauptrollen der omnipräsente Adam Driver sowie Baumbachs Muse Greta Gerwig, ausgestattet mit 1980er Jahre-Perücken. Ein New Yorker Kultregisseur des amerikanischen Independent Kinos verfilmt den legendären Roman des Kultautors Don DeLillo. Eine sichere Bank möchte man meinen. Doch die Rechnung geht nicht auf.
Adam Driver spielt einen College-Professor im Mittleren Westen, der sich auf „Hitler Studies“ spezialisiert hat. Leider kann er kein Deutsch und nimmt heimlich Sprachunterricht. Dafür weiß er alles über Hitlers Verhältnis zu seiner Mutter. Passenderweise heißen zwei der Kinder Heinrich und Steffie. Ihre Eltern haben eine obsessive Angst vor dem Tod, aber als er eines Tages er vor der Tür steht, wollen sie die Bedrohung nicht wahrhaben. Beim Zusammenstoß eines Lastwagens mit einem Güterzug, kommt es zu dem, was euphemistisch als „Airborne Toxic Event“ bezeichnet wird. Eine Wolke aus Giftgas hängt am Himmel und regnet auf die beschauliche Kleinstadt herunter.
Ein perfektes Szenario für einen hochaktuellen Thriller möchte man meinen. Doch was dabei herauskommt, ist eine „konfuse Mischung aus Satire und Katastrophenfilm“, wie Paolo Mereghetti im „Corriere della Sera“ treffend anmerkt. Baumbach gefällt sich in Filmzitaten und unmotivierten Slapstick Einlagen, wenn bei der Evakuierung alles im Chaos versinkt. Ein unendlicher Schwall von Dialogen, mal tiefschürfend aber oft banal, gibt dem Film die Anmutung eines atemlosen Hörspiels. Lars Eidinger hat einen Auftritt als schmierig versiffter Tabletten-Dealer, der sein verdientes Ende findet, während Barbara Sukowa, in Ordenstracht kaum wiederzuerkennen, als Schwester Hermann Marie das Schlusswort sprechen darf.
Ambivalentes Starporträt: TÁR
Ein ganz anderes Kaliber ist dagegen TÁR von Todd Field. Vor Jahren als Wunderkind des amerikanischen Independent Kinos gefeiert und mehrfach oscarnominiert, hat Todd Field seit „Little Children“ (2006) keinen Film mehr gedreht. Cate Blanchett spielt die fiktive Stardirigentin Lydia Tár, die, von Leonard Bernstein gefördert, schließlich als erste Frau die Leitung eines deutschen Orchesters in Berlin übernimmt. Sie trägt maßgeschneiderte Anzüge, lebt in einer durchgestylten Wohnung zusammen mit ihrer ersten Geigerin (Nina Hoss) und der gemeinsamen Adoptivtochter. Sie joggt und boxt, um in Form zu bleiben, jettet zwischen Berlin und New York, wo sie in einer Master Class die Widersprüche der Cancel Culture brillant auseinandernimmt.
Auf der anderen Seite nutzt sie ihren Erfolg rücksichtslos zu ihrem eigenen Vorteil. Als Lydia ein Auge auf die neue Cellistin Olga (Sophia Kauer) wirft, tut sie alles, um diese zu protegieren und ihr einen Solopart zu verschaffen. Ihre ambitionierte Assistentin (Noémie Merlant) lässt sie im Regen stehen, als es um die Besetzung einer wichtigen Position geht. Doch als ein früherer Protegé der Dirigentin sich das Leben nimmt, gerät Lydias Reputation unter Druck. #MeToo Vorwürfe werden laut, ein manipuliertes Video bringt sie in Bedrängnis, ihr Leben droht abzustürzen. Todd Field gelingt das fesselnde Portrait einer kreativen Persönlichkeit, die der Versuchung erliegt, ihre Macht zu missbrauchen.
Cate Blanchett, die fast in jeder Einstellung präsent ist, liefert eine Performance der Extraklasse. Mühelos bewegt sie sich in einem Spektrum von intelligenter Arroganz bis zu wütender Verzweiflung. Allerdings schafft es der Film trotz einer Länge von mehr als 2 ½ Stunden nicht, alles aufzulösen, was er vorher angestoßen hat. Zu viele mysteriöse Hinweise laufen ins Leere und lassen den Zuschauer frustriert zurück.
Zwischen Relität und Imagination: BARDO
„BARDO, falsa crónica de unas cuantas verdades“, was man mit „Falscher Bericht über einige Wahrheiten“ übersetzen könnte, ist ebenfalls eine Netflix Produktion und war einer der Filme, die auf dem Lido mit besonderer Spannung erwartet wurden. Er bringt es sogar auf eine Länge von drei Stunden, was dem Werk allerdings nicht guttut. Wie kaum anders zu erwarten, beeindruckt der mehrfache Oscar Gewinner Alejandro González Inárritu mit grandiosen Bildern und verstörenden Traumsequenzen. BARDO ist sein erster Film seit „Amores Perros“, der ganz in Mexiko gedreht wurde. Daniel Giménez Cacho, mit Bart und langen Haaren als Alter Ego des Regisseurs erkennbar, spielt Silverio, einen Journalisten, der nach 20 Jahren in Los Angeles mit seiner Familie nach Mexiko zurückkehrt und sich dort nicht mehr zuhause fühlt. Seine Kinder ziehen es vor, Englisch zu sprechen. Als er mit einem renommierten amerikanischen Journalistenpreis ausgezeichnet werden soll, stößt er in Mexiko auf Neid und Ablehnung. Man wirft ihm vor, sich an die Gringos verkauft zu haben. Auch wenn González Inárritu autobiographische Bezüge zurückweist, sind die Verweise auf seine internationalen Erfolge und Oscar Auszeichnungen in Hollywood deutlich erkennbar.
BARDO bewegt sich ständig zwischen realistischen und surrealen Szenen. Eine Wohnung steht plötzlich unter Wasser oder ist mit Sand gefüllt. So mäandert der Film elliptisch vor sich hin, wobei die persönlichen Obsessionen des Protagonisten so etwas wie einen roten Faden bilden. Dazwischen sind immer wieder Bezüge zur Geschichte Mexikos eingeschoben. Auf einem Berg von Indioleichen führt Silverio ein Gespräch mit dem spanischen Eroberer Hernán Cortés. Im Schloss von Chapultec, der Residenz der spanischen Vizekönige, wird eine der letzten Schlachten des mexikanisch-amerikanischen Kriegs nachgespielt. Natürlich spielt auch die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten eine zentrale Rolle. Immer wieder geht es um Fragen persönlicher und kultureller Identität. Zugleich bewegt sich González Inárritu filmisch auf den Spuren von Fellinis „8 ½“, dem berühmten Vorbild künstlerischer Selbstbefragung, wobei er im Laufe von drei Stunden die Geduld der Zuschauer auf eine harte Probe stellt.