Berlinale 2023: Ein Festivalbericht
Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek bei der Eröffnung der Berlinale 2023 (© IFB 2023)
Nach zwei Jahren Corona-Einschränkungen konnte die 73. Berlinale wieder im normalen Rahmen als Präsenzfestival stattfinden. Allerdings hatte man in Berlin die Zeit genutzt, um die Veranstaltung maximal zu bürokratisieren. Ein kompliziertes System von Online-Buchungen trug dazu bei, den Besuchern das Leben und die Buchung von Tickets schwer zu machen. Wer über kein Smartphone verfügte, brauchte gar nicht erst nach Berlin zu kommen.
Ihrem eigenen Anspruch nach versteht sich die Berlinale als ein Festival der Solidarität mit den Entrechteten und Unterdrückten dieser Welt. Dementsprechend gab es Solidaritätskundgebungen mit den Frauen im Iran und der von Russland angegriffenen Ukraine. Zur Eröffnung wurde - wie schon in Cannes und Venedig - der ukrainische Präsident Selenskyj live zugeschaltet und mit Standing Ovations des Berliner Publikums gefeiert.
Dominanz deutscher Filme
Dass so viel demonstrativ ausgestelltes politisches Engagement auf Kosten der künstlerischen Substanz gehen kann, zeigte der Wettbewerb um den Goldenen Bären. Hier herrschte eine Präferenz für weibliche Regisseure und Minderheiten. Aber der Reihe nach. Mit fünf Beiträgen dominierten die deutschen Filme die Auswahl. Darunter allein drei Filme von Vertretern der sogenannten ‚Berliner Schule‘, man könnte fast von einer Art Klassentreffen sprechen. Die ‚Berliner Schule‘, in französischen Cineasten-Kreisen hochgeschätzt, ist berühmt-berüchtigt für ihre langen Einstellungen sowie eine maximal entdramatisierte Erzählweise. Als radikale Vertreterin dieser ästhetischen Form gewann Angela Schanelec mit ihrem neuen Film „Music“ den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch. Betont langsam erzählt Schanelec eine Ödipus-Geschichte, die von Griechenland nach Berlin führt. Geduldig sieht man den Protagonisten zu, wie sie aus dem Auto steigen, ihr Gepäck herausnehmen, Betten beziehen, mit Roller-Skates und Kinderwagen durch die Stadt fahren. Wie der Titel vermuten lässt, wird auch gesungen.
Dagegen wirkt „Roter Himmel“ von Christian Petzold, Gewinner des Großen Preises der Jury, beinahe wie ein Action-Film. Petzold, bisher als weitgehend humorfrei bekannt, überrascht mit einer subtilen Komödie um einen frustrierten Jung-Schriftsteller, der mit anderen in einem Haus an der Ostsee Urlaub macht und dort auf Paula Beer trifft, die wie schon in den letzten Filmen von Petzold als mystery woman dem jungen Autor den Kopf verdreht. Die Komik verdankt sich vor allem dem österreichischen Newcomer Thomas Schubert, der mit ungerührter Buster Keaton-Miene seine soziale Unverträglichkeit zur Schau stellt. Während die anderen ins Meer springen, liegt er komplett angezogen und missmutig am Strand oder bleibt gleich im Garten sitzen, denn „die Arbeit lässt es nicht zu“, sich zu amüsieren. Thomas Schubert wäre ein starker Kandidat für den Preis als bester Darsteller gewesen, wenn es diesen noch gäbe. Offensichtlich traut Petzold der ironisch gebrochenen Sommer-Idylle am Meer nicht und verpasst dem Film existenzielle Tiefe, wenn der Wald brennt und sich der Himmel rot färbt.
Christoph Hochhäusler, der dritte Vertreter der ‚Berliner Schule‘, präsentiert mit „Bis ans Ende der Nacht“ eine Mischung aus Thriller und Melodrama. Nicht zuletzt wegen der Dialoge, die wie in einem mittelmäßigen Tatort vor allem für das Publikum gesprochen werden, wirkt das Resultat wie eine Kinoversion der Serie „How to Sell Drugs Online“. Timocin Ziegler, als Undercover-Ermittler und schwuler Macho, Typ Rainer Werner Fassbinder, wird mit der kriminellen Transfrau Leni (Thea Ehre) zusammengespannt, um als Lockvogel an den Ex-DJ und Nachtclub-Besitzer Victor (Michael Sideris) heranzukommen, der auf einer Online-Plattform im großen Stil Drogen verkauft. Zwar setzt Hochhäusler die Versatzstücke eines Thrillers wie aus einem Baukasten zusammen, doch die Figuren bleiben eindimensional, es will keine Spannung aufkommen. Dass Thea Ehre den Preis für die beste Nebenrolle gewann, hatte wohl vor allem mit der demonstrativen Identitätspolitik des Festivals zu tun.
Diese inhaltliche Ausrichtung war vielleicht ein Grund, warum die beiden anderen deutschen Filme im Wettbewerb bei der Preisverleihung leer ausgingen. Die Altmeisterin Margarete von Trotta beeindruckte mit einem stimmigen Portrait der österreichischen Dichterin und feministischen Ikone Ingeborg Bachmann, „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“. Den Rahmen bildet Bachmanns Reise nach Ägypten mit ihrem Verehrer, dem österreichischen Autor Adolf Opel. In Rückblenden taucht ihre konfliktreiche Beziehung mit dem Schweizer Erfolgsautor Max Frisch auf. „Wir haben es nicht gut gemacht“, schreibt Frisch in einem Brief an Bachmann, nachzulesen in ihrem kürzlich veröffentlichten Briefwechsel, der sich als ideale Begleitlektüre zu Trottas Film anbietet. Vicky Krieps als Ingeborg Bachmann ist grandios in ihrer emotionalen Vielschichtigkeit, ebenso wie Ronald Zehrfeld als schwergewichtige Erscheinung und eifersüchtig Liebender, der an Bachmanns Männerkonsum verzweifelt. Beide hätten einen Darstellerpreis verdient.
Das gilt auch für Marlene Burow, die Hauptdarstellerin in Emily Atefs Romanverfilmung „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“. Nachwendezeit in einem Thüringer Dorf, die 19jährige Maria lebt bei einer Pflegefamilie und ist mit deren Sohn Johannes (Cedric Eich) befreundet. Während er von einem Fotografie-Studium in Leipzig und vom Aufbruch in die große Welt träumt, bleibt Maria lieber zuhause und verliebt sich in den 20 Jahre älteren Nachbarn Henner. Bedingungslos lässt sie sich auf eine Amour Fou und ein existenzielles Doppelleben ein. Auch wenn Daniela Kriens Roman noch radikaler angelegt ist, dort ist die Protagonistin erst 16, gelingt der Regisseurin Emily Atef das fesselnde Portrait einer Zeit, in der alles im Umbruch und die Zukunft noch offen ist.
Doch der beste deutsche Film der Berlinale lief in der Reihe Panorama, „Das Klassenzimmer“ von İlker Çatak, ein Film, der von der Erstklassigkeit des deutsch-türkischen Autors und Regisseurs zeugt. Carla Nowak (Leonie Benesch) ist eine junge Lehrerin an einem Gymnasium. Sie unterrichtet Mathematik und Sport, den Stoff und die Schüler hat sie sicher im Griff. Bis es eines Tages zu einer Reihe mysteriöser Diebstähle kommt und Carla beim Versuch, den Täter aufzuspüren, zwischen alle Fronten gerät.
Der Film zeichnet das beklemmende Bild eines sozialen Mikrokosmos, in dem schnelle Urteile gefällt und abweichendes Verhalten nicht toleriert wird. Die Kamera Judith Kaufmanns setzt die Figuren meisterhaft in Szene, so auch Leonie Benesch, die in diesem Jahr zu den internationalen Shooting Stars der Berlinale gehörte und für ihre Rolle alle Bären dieses Festivals verdient hätte. Immerhin gewann „Das Klassenzimmer“ gleich zwei Preise: den Preis der Label Europa Cinemas und den CICAE Arthouse Cinema Award, die beide von internationalen Programmkinos vergeben werden. Der Film, der Anfang Mai in Deutschland anläuft, hat alles, was es braucht, um die Zuschauer nach der langen Corona-Abstinenz wieder ins Kino zu locken.
Preisträger - und preiswürdige Filme des Festivals
Genau in dieser Hinsicht versagt der Gewinner des diesjährigen Goldenen Bären, der Franzose Nicolas Philibert mit seinem Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ (Auf der Adamant). Der Film ist eine ehrenwerte Reportage über eine Tagesklinik für psychisch Auffällige in einem Boot auf der Seine. Doch das Lob der Jury-Präsidentin Kristen Stewart, die den Film als „masterfully crafted“ („meisterhaft gestaltet“) bezeichnete, ist etwas hoch gegriffen. „Sur l’Adamant“ ist ein konventionell gemachter Dokumentarfilm über ein hinlänglich bekanntes Thema mit der Botschaft, „dass psychisch Behinderte Menschen wie du und ich sind“, wie es Regisseur Philibert in seiner Dankesrede formulierte. Auch das ist nichts Neues. So reiht sich der Goldene Bär für „Sur l’Adamant“ in die Reihe unglücklicher Preisvergaben, die auf der Berlinale Tradition haben. Denn keines der großen Filmfestivals produziert so viele Preisträger, die im Kino kein Publikum finden, wie die Berlinale.
Es hätte durchaus preiswürdige Alternativen gegeben, wie z.B. den chinesischen Beitrag „The Shadowless Tower“ (Der schattenlose Turm) von Zhang Lü. Wie ein elegantes Puzzle präsentiert der Film im Laufe von mehr als zwei Stunden Versatzstücke aus dem Leben eines Einzelgängers, der einmal Dichter werden wollte und jetzt Restaurantkritiken schreibt. Ganz allmählich fügen sich Bilder und Szenen zur Geschichte eines einsamen Mannes zusammen, der auf der Suche nach seinem Vater ist. Eine melancholische Spurensuche auf den Straßen von Beijing. Eine junge Fotografin wird zu seiner professionellen Begleiterin, ob mehr daraus wird, lässt der Film offen. Ein Meisterwerk!
Ähnlich melancholisch ist Celine Songs bittersüße Liebesgeschichte „Past Lives“ (Vergangene Leben) angelegt. Das Mädchen Young Na und der Junge Hae Sung sind Klassenkameraden und wetteifern um die besten Noten. Young Na ist überzeugt, dass die beiden eines Tages heiraten werden. Doch dazu kommt es nicht, weil Young Na im Alter von 12 Jahren mit ihren Eltern von Seoul nach Toronto auswandert und sich ab jetzt Nora nennt. 12 Jahre später finden sich die beiden auf Facebook wieder und kommunizieren per Skype. Doch dann heiratet die angehende Schriftstellerin einen schreibenden Kollegen und zieht mit ihm nach New York. Mae Sung bleibt in Seoul und lebt weiterhin bei seinen Eltern. Noch einmal 12 Jahre später reist er nach New York und trifft dort seine Jugendliebe wieder. Teo Yoo, der schon in Kirill Serebrennikows Film „Leto“ als russische Rock-Ikone Wiktor Zoi brillierte, ist großartig als nostalgischer Liebhaber ebenso wie Greta Lee als koreanisch-amerikanische Nora.
Viel Beifall und einen Silbernen Bären gab es für den spanisch-baskischen Beitrag „20.000 especies de abejas“ (20.000 Arten von Bienen), der ganz in der Art des Vorjahressiegers „Alcarràs“ von Carla Simón eine Familiengeschichte in ländlicher Idylle erzählt. Beide Filme sind von Frauen inszeniert und rühren das Herz der Festivalzuschauers mit altklugen Kindern. In Estibaliz Urresola Solagurens Bienenfilm ist es der 8jährige Aitor (Sofia Otero), der mit seinem Geschlecht hadert und lieber ein Mädchen sein möchte. Entspannt ist er nur, wenn er mit seiner Tante baskisch spricht und sich um die Bienen kümmert. Mit seiner Mutter, einer Frustrierten Künstlerin, gerät er in Konflikt, als er zur Taufe eines Nachbarjungen ein Kleid anziehen möchte.
Auf der Berlinale hat man schon seit einigen Jahren die konventionellen Preise für den/die beste(n) Schauspieler/-in abgeschafft zu Gunsten eines Unisex-Darstellerpreises. Der ging an die 8jährige Laiendarstellerin Sofia Otero. Eine Entscheidung, die beim Berliner Publikum zwar viel Beifall fand, doch zugleich eine Geste mangelnder Wertschätzung für alle professionellen Schauspieler war, die man mit dem Preis hätte auszeichnen können.
Erstaunlich, dass der von der Kritik hochgelobte mexikanische Beitrag „Tótem“ bei der Preisverleihung leer ausging. Immerhin wurde er mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet. Die Regisseurin Lila Avilés konzentriert sich auf einen Tag im Leben einer mehrere Generationen umfassenden großbürgerlichen Familie, beobachtet mit den Augen der 7jährigen Sol. Ihr Vater, ein Maler, ist an Krebs erkrankt, die Mutter arbeitet am Theater und für den Abend ist eine Überraschungsparty für den kranken Vater geplant. Wie ein Mosaik setzt der Film aus einer Fülle individueller Beobachtungen ein Familienbild zusammen, das in im Angesicht des Todes das Leben feiert.
Mindestens einen Hauptpreis hätte der italienische Beitrag „L’ultima notte di Amore“ (Die letzte Nacht von Amore) verdient, doch der lief nicht im Wettbewerb, sondern in der Reihe Berlinale Special Gala. Der Film beginnt mit einem atemberaubenden Hubschrauberflug über das nächtliche Mailand und endet in der Wohnung, wo der Polizei-Sergeant Franco Amore seinen Abschied von der Polizia di Stato feiert. Doch der Anfang, der so überzeugend scheint, erweist sich bald als trügerisch. Der italienische Star Pierfrancesco Favino verkörpert diesen Polizisten als einen Mann mit klaren moralischen Prinzipien, der in 35 Dienstjahren nie einen Schuss abgefeuert hat. Bis zu dieser tragischen letzten Nacht vor seiner Pensionierung. Regisseur Andrea di Stefano, der auf 35mm- Material gedreht hat, was dem Film eine besondere atmosphärische Dichte verleiht, gelingt ein perfekter Thriller, der als dramatischem Schauplatz nur eine Autobahnunterführung am Stadtrand braucht, um mit jedem amerikanischen Gangsterfilm mitzuhalten.
Fazit
Im Zuge der Pandemie sind der Berlinale etliche Sponsoren abhandengekommen, und das macht sich in Form einer gewissen Verarmung bemerkbar. Beim Fahrdienst musste man sogar auf die dubiose amerikanische Taxikonkurrenz Uber zurückgreifen. Der nachdrücklich formulierte Anspruch, ein politisches Festival zu sein, konnte allerdings nicht über einen mittelmäßigen Wettbewerb hinwegtrösten. Schon gar nicht über den misslungenen Auftritt von Sean Penn, der mit gefärbten Haaren und Bart an Gustav Aschenbach in Thomas Manns „Tod in Venedig“ erinnerte.
Sein dokumentarischer Versuch mit dem Titel „Superpower“ zeigt den zweimaligen Oscargewinner auf dem Weg nach Kyjiw, um seine Solidarität mit der Ukraine zu demonstrieren. Im Regierungsbunker am Abend des russischen Angriffs und später im Garten des Präsidentenpalais sitzt er Auge in Auge seinem Superhelden Wolodymyr Selenskyj gegenüber. Ansonsten sieht man den rastlosen Sean Penn vor allem beim Rauchen, Trinken und Telefonieren. Mit und ohne Stahlhelm ist er in Kyjiw und im Kugelhagel an der Front unterwegs. Zurück in den USA tritt er bei Fox News auf und verbündet sich mit republikanischen Kongressabgeordneten. Das alles für einen guten Zweck, nämlich um die Welt und seine Landsleute über den Krieg in der Ukraine aufzuklären.
Für derartige Peinlichkeiten sollte ein Festival wie die Berlinale kein Forum bieten. Immerhin kam zum Ausgleich Steven Spielberg nach Berlin, um seinen autobiographischen Film „The Fabelmans“ vorzustellen und einen Ehrenbären entgegenzunehmen. Was bei Spielberg gelingt, künstlerischen Anspruch und publikumswirksames Kino zusammenzubringen, gelingt in Berlin offenbar nicht. Wenn man sich bei der Filmauswahl wie auch der Preisvergabe vor allem als politisch engagiertes Festival positioniert, wird das zu Lasten der künstlerischen Qualität gehen. Unter derartigen inhaltlichen Vorgaben dürfte die Berlinale einer unsicheren Zukunft entgegengehen.