„Ich habe das Gefühl des Sehens vergessen,“ heißt es am Anfang von „Poznámky z Eremocénu“ (Notes from the Eremocene) von Viera Čákanyová. Bei einem solchen Satz kann einem im Kino schon der Schreck durch die Glieder fahren. In der digitalen Welt des Eremozän sind von den Menschen nur noch Spuren geblieben, die umständlich in analoge Bilder zurückverwandelt werden müssen – falls eine digitale KI dem Impuls folgt, das Sehen zu verstehen, ein Sehen jenseits gestaltloser Pixelwolken. Im Eremozän, dem Zeitalter der Einsamkeit, sind Filmbilder eine Rarität geworden – und ihr gelegentliches Auftauchen ein Glücksfall. Eine Feier des Kinos, auch wenn es nur Bilder eines nackten Mannes sind, der im Meer schwimmt. Nach dem Kino blickt man mit einer gewissen Nostalgie auf die Exemplare der unvernünftigen Gattung, die fleißig an ihrem Verschwinden arbeitet.
Den Film aus ungewohnten Perspektiven zu beleuchten, ist eines der Themen des in diesem Jahr zum letzten Mal von Cristina Nord kuratierten Berlinale-Forums. So wie in Fiona Tans „Dearest Fiona“, die Bild- und Tonraum konsequent trennt. Der Bildraum: eine Montage von holländischem Archivmaterial zwischen 1899 und 1930, von Arbeitsvorgängen oder von nationalen Feiertagen, die in ihrer restaurierten Brillanz eine wuchtige Präsenz gewinnen; der Tonraum: Briefe ihres aus Indonesien stammenden Vaters aus der Zeit zwischen 1988 und 1990, mit Bemerkungen zu Gorbačov, zum Mauerfall, zur Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des himmlischen Friedens in Beijing, fließend verwoben mit familiären Botschaften und Fragen zum Filmstudium der Tochter in den fernen Niederlanden. Sein Ergebnis heute ist eine frappierende Verschränkung von öffentlicher und privater Sphäre, von Außen und Innen, von Sehen und Hören: das Geheimnis eines jeden Films. Und ein Kommentar zum Kolonialismus, der alle gängigen Muster durchkreuzt.
Ein zweites Thema des Forums: Entdeckungen. „The Bride“ von Myriam U. Birara (Ruanda 2023) erzählt von dem Brauch, junge Frauen zu entführen, zu vergewaltigen und danach mit ihren Familien eine Heirat auszuhandeln, zeitlich situiert wenige Jahre nach dem Genozid an den Tutsi in Ruanda 1992. Eva, die eigentlich Medizin studieren will, widerfährt dieses Schicksal. Der Mann, der sie missbraucht und ganz selbstverständlich glaubt, sie in Zukunft auch legal besitzen zu können, bleibt ein Schemen, unscharf, im Hintergrund. In seiner Kusine findet Eva eine Freundin und Verbündete, die ihr Kraft zum Widerstand verleiht, auch in der gemeinsamen Erinnerung an Tod und Überleben nur kurz zuvor. Ein pointierter Dialog, kraftvolle Bilder und überzeugende Darstellerinnen machen dieses Debüt zum Ereignis. Und eine ferne Geschichte zu einer Erfahrung, die uns nahegeht.
Ein dritter Strang im insgesamt überzeugenden Profil des Forums sind die langen Dokumentationen zur Zeitgeschichte. Wie „Gehen und Bleiben“ von Volker Koepp über Uwe Johnsons literarische Anfänge in der DDR und den Niederschlag seiner Erfahrungen in „Jahrestage“, seinem Hauptwerk – bis hin zur Überschneidung ihres Fluchtpunkts, dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag im August 1968, mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am Ende der Dreharbeiten, als, so Koepp im Off-Kommentar des Films, Putin den seit 2014 andauernden Krieg „auf das ganze Land“ ausweitete. Politische, literarische, lokale und persönliche Geschichte, erschlossen über Interviews mit Menschen, die mit Johnson verbunden waren, gehen in Koepps Film eine überzeugende, weil gängige Kategorien meidende Verbindung ein.
Eine letzte, bedeutende Dimension des Forums steht unter dem Titel „Fiktionsbescheinigung“. Sie versammelt weitgehend vergessene deutsche Filme von Regisseuren, die einer ethnischen Minderheit angehören, und fügen ihm damit eine wichtige filmhistorische Façette hinzu. Zehn Filme gehörten 2023 zu diesem Programmsegment, darunter „Ordnung“ (1980) von Sohrab Shahid Saless, 1974 aus dem Iran nach Deutschland emigriert, dessen Werk allmählich wiederentdeckt wird. Ein fast abstrakter und zugleich politisch unbequemer Film, der an einem deutschen Durchschnittsbürger das nicht verarbeitete Trauma der Naziverbrechen demonstriert. „Aufstehen“ schreit er jeden Sonntagmorgen in den Straßen Frankfurts, und „Auschwitz“, nachdem seine Frau ihn in die Psychiatrie eingeliefert hat. Fast ein Kalauer. So nah hat Banalität und Schrecken nur noch Herbert Achternbusch zusammengeführt, dem der Film gewidmet ist.