Venedig 2023 (1)

Festivalbericht von Peter Paul Huth
Comandante (Edoardo De Angelis)

Eröffnungsfilm in Venedig: "Comandante" von Edoardo De Angelis

 

Siamo italiani

Es hätte perfekt sein können: Venedig feiert sein 80. Jubiläum, und wie in jedem Jahr strömen die Stars aus Hollywood zum Festival. Doch dann kam der Streik der Schauspielergewerkschaft, und aus war der Traum von den amerikanischen Stars auf dem Lido. Immerhin sorgten Adam Driver, Jessica Chastain und Peter Sarsgaard für Glamour auf dem Roten Teppich. Hinzu kamen europäische Stars wie Isabelle Huppert, Pierfrancesco Favino, Toni Servillo, Guillaume Canet, Alba Rohrwacher und Franz Rogowski.

In „Comandante“ (Der Kommandant) von Edoardo De Angelis, dem kurzfristig angesetzten Eröffnungsfilm, spielt Pierfrancesco Favino den U-Boot Kommandanten Salvatore Tadora, einen realen italienischen Marineoffizier, der bei einem Einsatz im Atlantik eine mutige Entscheidung trifft. Nachdem sein Boot ein belgisches Frachtschiff versenkt hat, nimmt er die schiffbrüchige Mannschaft auf und bringt sie zum nächsten Hafen. Eine gewagte Entscheidung, verbunden mit dem Risiko, vors Kriegsgericht gestellt zu werden. Ein ungewöhnlich humaner Kriegsfilm, weniger martialisch als Wolfgang Petersens „Das Boot“, wo die Schiffbrüchigen nicht aufgenommen werden. Interessant ist das spezifisch italienische Flair des Films, so ist Gigi, der Koch, neben dem Comandante der wichtigste Mann an Bord, der die Mannschaft mit seinen Gnocchi entzückt und von den Belgiern lernt, wie man „Frites“ zubereitet. Als der belgische Kapitän fragt, warum man ihn und seine Leute gerettet habe, antwortet der Comandante lakonisch, „Perché siamo italiani“ (Weil wir Italiener sind).


Nicht wiederzuerkennen ist Pierfrancesco Favino in Stefano Sollimas „Adagio“, wo er einen kahlköpfigen Alten spielt. „Adagio“ ist ein melancholischer Thriller, der von korrupten Polizisten und gealterten Gangstern erzählt. Von Alter und und Krankheit gezeichnet, der eine hat Krebs, der andere ist blind und der dritte halb dement, sind sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Neben Favino agieren die italienischen Stars Toni Servillo und Valerio Mastandrea. Die Alten wollen einen Jungen beschützen, der von kriminellen Polizisten erpresst wird. Sollima, der mit dem Gangsterfilm „Suburra“, den Serien „Romanzo Criminale“ und „Gomorrah“ berühmt wurde und auch in den USA gearbeitet hat, taucht ein von Hitze geplagtes Rom in fahle, gelbe Farbtöne. Auch die Schauplätze am Stadtrand sind wenig einladend. Alles andere als ein Werbefilm für die römische Polizei, die vor Folter und Mord nicht zurückschreckt. Unwahrscheinlich, dass man mit dieser Art von Kino man einen Preis gewinnt.

Favoriten

„Poor Things“ von Yorgos Lanthimos stand sofort an der Spitze des Kritiker Rankings, und es schien unvermeidlich, dass der Film einen der Hauptpreise gewinnen würde. Das lakonisch schräge Kino des Griechen („The Lobster“, „The Favourite“), der seine Filme schon lange auf Englisch dreht, ist für intellektuelle Arthouse-Liebhaber einfach unwiderstehlich. In einem surreal verfremdeten viktorianischen Ambiente implantiert der Borderline-Chirurg Baxter (Willem Dafoe) einer schwangeren Toten das Gehirn ihres ungeborenen Säuglings.


Emma Stone spielt diese weibliche Frankenstein-Version namens Bella mit kindlich rabiater Naivität. Als sie das Geheimnis der Selbstbefriedigung entdeckt, kann Bella nicht genug davon bekommen. Ein sexistischer Lebemann namens Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) nimmt die naive Kindfrau mit auf eine Weltreise, auf der sie die meiste Zeit mit „furious jumping“ (wildem Gehopse) verbringen, wie Bella es nennt. Das gibt dem Film Gelegenheit zu ausführlichen Sexszenen, die Emma Stone souverän absolviert. Ohnehin wird sie im Laufe der Geschichte immer selbstbewusster, sehr zum Missfallen ihres Reisebegleiters, der sie schließlich in eine Kiste steckt und auf ein Schiff schleppt. In Paris angekommen findet sie einen Job als Prostituierte und hat Gelegenheit, das seltsame Sexualleben der Männer zu studieren. Mark Ruffalo, kaum wiederzuerkennen, wird reduziert auf die Karikatur eines selbstmitleidigen Machos und Jammerlappens.

Zurück in Schottland will Bella endlich den treuen Assistenten ihres Schöpfers heiraten, aber vorher gibt es noch einige überraschende Wendungen, die sich beliebig ausdehnen lassen. Lanthimos pflegt seine bekannten Manierismen wie extreme Weitwinkel und ‚Fischaugenoptik‘, deren Logik sich nicht unbedingt erschließt. Zum skurrilen Ambiente tragen putzig verfremdete Tiere wie z.B. Hühner mit Schweineköpfen bei. Doch „Poor Things“ ist vor allem die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung. Bellas Weg vom Objekt lüsterner Männerfantasien zur sexuell emanzipierten Frau, sorgte für hymnische Begeisterung im deutschen Feuilleton, „eine wahrhaft fantastische Emanzipationsgeschichte“, (Spiegel Plus), „eine verwegene und subversive Entwicklungsgeschichte“ (Frankfurter Rundschau). „Zwischen sprühender Komik, entwaffnender Schamlosigkeit“ verleihe Emma Stone „den zahlreichen Sexszenen eine besondere Würde“ (FR). „Viel mehr“ könne Kino nicht sein (Süddeutsche Zeitung). Die Verbindung von Emanzipation und Sex wird zur Pawlowschen Reizreaktion, die das Feuilleton in Ekstase versetzt.


Ähnlich gefeiert wurde der zweite Favorit der Kritik, „Evil Does Not Exist“, das neue Werk von Ryusuke Hamaguchi.  Der Japaner hatte im vergangenen Jahr mit seinem 3-Stunden-Epos „Drive My Car“ den Auslands Oscar gewonnen, entsprechend hoch waren die Erwartungen. Trotz einer Länge von ‚nur‘106 Minuten kamen die Connaisseure des japanischen Kino-Minimalismus ganz auf ihre Kosten.

Die Geschichte ist relativ schlicht. Ein Unternehmen aus Tokyo will in einer idyllischen Waldlandschaft einen Luxus-Campingplatz bauen. Die Dorfbewohner sind nicht begeistert und zeigen sich ablehnend. Es geht auch um Rehe, die das geplante Gelände kreuzen, ein kleines Mädchen, das nicht rechtzeitig von seinem Vater von der Schule abgeholt wird, und um die sentimentalen Naturvorstellungen der entfremdeten Stadtbewohner. Wir bekommen eine Ahnung davon, dass die Menschen im Dorf in Einklang mit der Natur leben, während das Touristik Unternehmen keine Rücksicht nimmt und nur an schnellem Profit interessiert ist. Erzählt wird in knappen Andeutungen und ausgedehnten Naturbeobachtungen, die viel Raum für nachträgliche Interpretation lassen. Ein gefundenes Fressen für meditativ eingestellte Zuschauer. Verglichen mit Hamaguchis früheren Filmen spielen die Beziehungen zwischen den Figuren kaum eine Rolle, was „Evil Does Not Exist“ seltsam steril wirken lässt.

Liebesgeschichten

Vor drei Jahren schockierte und begeisterte der Mexikaner Michel Franco das Publikum in Venedig mit seiner verstörenden Revolutionsparabel „Nuevo Orden“ (Neue Ordnung) und gewann den Großen Preis der Jury. Ein Jahr später war er mit „Sundown“ im Wettbewerb vertreten. Es gibt nicht wenige, die ihn für einen der besten Regisseure des internationalen Kinos halten. Sein achter Film, „Memory“, zu dem er wie immer auch selbst das Drehbuch schrieb, war einer der schönsten des Festivals.


Als Franco erfuhr, dass Jessica Chastain seine Filme liebt, schlug er ihr die Hauptrolle in „Memory“ vor. Silvia, eine traumatisierte Frau und alleinerziehende Mutter, begegnet bei einem High-School-Treffen Saul (Peter Sargaard), der ihr bis vor ihre Haustür folgt. Sie meint sich zu erinnern, dass er einer der Jungs war, die sie in der Schule gequält und vergewaltigt haben, aber Saul kann sich an nichts erinnern. Schließlich merkt sie, dass sie sich geirrt hat und erfährt, dass Saul unter beginnender Demenz leidet. Wie es trotz aller Widrigkeiten zu einer Annäherung zwischen den beiden kommt, erzählt Michel Franco auf besonders einfühlsame Weise. Zwei soziale Außenseiter, die eigentlich keine Nähe ertragen können, kommen sich vorsichtig näher. Es ist atemberaubend zuzuschauen, wie Jessica Chastain und Peter Sarsgaard diese beschädigten Charaktere verkörpern. „Es gibt Regisseure, die Angst vor Schauspielern haben, aber ich liebe Schauspieler und freue mich, wenn ich sehe, wie mein Drehbuch lebendig wird,“ sagte Michel Franco in der Pressekonferenz.


Auch Stéphane Brizé ist ein regelmäßiger Gast auf dem Lido. Zuletzt war er vor zwei Jahren mit „Une autre monde“ im Wettbewerb von Venedig. Damals spielte Vincent Lindon einen Manager, der von seinem amerikanischen Konzernchef unter Druck gesetzt wird, massenhaft Mitarbeiter zu entlassen. Brizé hat ein feines Gespür für soziale Konflikte wie auch für zwischenmenschliche Beziehungen. Guillaume Canet spielt in seinem neuen Film „Hors saison“ (Nebensaison) in gewisser Weise sich selbst, einen Filmstar, der kurz vor einer Theaterpremiere Panik bekommt und in ein nobles Wellness-Hotel in der Bretagne flieht. Hier trifft er auf seine frühere Geliebte Alice, eine italienische Pianistin, die Alba Rohrwacher mit melancholischem Charme verkörpert. Mittlerweile verheiratet, lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter abgeschieden in der Provinz und gibt Klavierunterricht. Als sie Mathieu wiederbegegnet, bricht bei beiden ihre alte Leidenschaft wieder auf. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie sich vor 15 Jahren nicht getrennt hätten? Es ist offensichtlich, dass beide mit ihren jetzigen Beziehungen nur begrenzt zufrieden sind. Zurückhaltend und unsentimental inszeniert Stéphane Brizé die emotionale Zerrissenheit seiner Figuren. Feinfühlig evoziert „Hors saison“ einen melancholischen Rückblick auf das Leben und die Entscheidungen, die existentielle Konsequenzen haben.

Die Verfemten

Es war eine mutige Entscheidung des Festivaldirektors Alberto Barbera, drei Regisseure einzuladen, die wegen des Vorwurfs sexueller Übergriffe seit Jahren skandalisiert werden. Schwer vorstellbar, dass man in Berlin die neuen Filme von Woody Allen, Roman Polanski und Luc Besson gezeigt hätte. Aber Venedig war schon immer toleranter als andere Festivals.

Woody Allen ist nach Paris zurückgekehrt und hat zu alter Form gefunden. „Coup de chance“ verbindet auf ähnliche Weise Komödien- und Thriller-Elemente wie „Match Point“. Ursprünglich dachte Allen an ein amerikanisches Paar in Paris, aber glücklicherweise verwarf die Idee und konzentrierte sich auf eine französische Besetzung. Obwohl er kein Französisch spricht, hat er auf Französisch gedreht, was dem Film guttut.


Zufällig treffen sich die beiden Schulfreunde Fanny (Lou de Lâage) und Alain (Niels Schneider) auf der Straße. Sie haben zusammen die Französische Schule in New York besucht. Jetzt arbeitet Fanny beim vornehmen Auktionshaus Artcurial und ist mit dem erfolgreichen Finanzmakler Jean (Melvil Poupaud) verheiratet, Alain (Niels Schneider) ist Schriftsteller und lebt nach seiner Scheidung wieder allein. Die beiden kommen sich näher und treffen sich heimlich. Doch Jean erfährt von der Affäre und greift zu drastischen Mitteln.

„Liebe, Leidenschaft, Ehebruch und Rache, das sind die Elemente des Dramas seit der Antike“, sagt Woody Allen in der Pressekonferenz. Es ist der 50. Film des 88jährigen. Ob er keine Angst vor dem Tod habe? „Ich halte nichts vom Tod. Er ist ein mieser Deal. Es gibt kein Entkommen, weder die Wissenschaft, die Kunst oder die Philosophie können uns retten. Das Beste ist, nicht daran zu denken.“

In den USA mag er verfemt sein, in Frankreich und Italien wird Woody Allen gefeiert. Schon als sein Name auf der Leinwand erscheint, gibt es spontanen Beifall.


Auch der französische Regisseur und Luc Besson war mit Vorwürfen sexueller Belästigung konfrontiert, vom Verdacht einer Vergewaltigung wurde er im Juni 2023 freigesprochen. Sein Film „Dogman“, bei dem er auch das Drehbuch schrieb, hinterließ einen starken Eindruck im Wettbewerb. Nicht zuletzt dank der enormen Wandlungsfähigkeit des Hauptdarstellers Caleb Laundry Jones, der den Dogman des Titels spielt, den querschnittsgelähmten Doug, der zurückgezogen mit seinen Hunden lebt. „Dogman“ wirkt wie ein Kinomärchen auf Speed. Der junge Douglas wird von seinem sadistischen Vater (Clemens Schick in einer mutigen Rolle) in den Hundezwinger gesperrt und schließlich angeschossen, so dass er nur knapp überlebt. Später tritt Doug als transsexuelle Chanteuse in einem Nachtclub auf. Seine Hunde hat er so raffiniert auf Einbrüche trainiert, dass sie keine Spuren hinterlassen. Ein Versicherungsdetektiv, der ihm auf die Schliche kommt, nimmt ein blutiges Ende. „Dogman“ spielt auf groteske Weise mit Elementen von Gewalt und Humor und entzückt vor allem mit der Performance der dressierten Hunde.

Vor vier Jahren gewann Roman Polanski in Venedig mit „Intrige“ (J’accuse) den Großen Preis der Jury. Das Historiendrama um den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der zu Unrecht der Spionage für Deutschland beschuldigt wird, bleibt als einer der besten Filme Polanskis in Erinnerung. Das kann man über sein neues Werk „The Palace“ beim besten Willen nicht sagen.


Der Film spielt am Sylvester Abend der Jahrtausendwende 1999/2000 im luxuriösen Palace Hotel in Gstaad, in den Schweizer Bergen. Hier hat sich ein Ensemble skurriler Charaktere versammelt, die bemüht komisch sind, ohne dass der Funke überspringt: Fanny Ardant als Gräfin, deren Hund mit Kaviar gefüttert wird und dann aufs Bett macht, John Cleese als texanischer Milliardär, der erst nach Mitternacht sterben darf (was er nicht schafft), Mickey Rourke als amerikanischer Investor, Milan Peschel als trotteliger Bankangestellter und Oliver Masucci als beflissener Hotelmanager. Dem Film fehlen Timing und Rhythmus für eine überdrehte Farce. Das Drehbuch des 90jährigen Polanski und seines 85jährigen polnischen Landsmanns Jerzy Skolimowski zeichnet sich bestenfalls durch bemühten Altherrenhumor aus. „Polanski’s ‚Palace‘ is a stinker“, schreibt der Kritiker der Londoner Times.