Sex und Gefühlsverwirrungen

© Nico Tavernise


Jede Menge Sex gab es in diesem Jahr in Venedig auf der Leinwand zu sehen, hetero, gay, whatever. „Babygirl“ die zweite Regie der holländischen Schauspielerin Halina Reijn wurde spektakulär als erotischer Thriller angekündigt und weckte entsprechende Neugier. Romy (Nicole Kidman), Ende 50 und CEO eines erfolgreichen New Yorker Unternehmens, lässt sich auf eine Affäre mit einem 30 Jahre jüngeren Praktikanten (Harris Dickinson) ein. Zuhause hat sie eine perfekte Familie, aber sie hat keine Lust auf Kuschelsex mit ihrem Mann Jacob (Antonio Banderas, mittelmäßig attraktiv mit gefärbten Haaren) und schaut sich lieber Pornos an.

Nicole Kidman stürzt sich so vorbehaltlos in die Rolle wie ihre Figur in die gefährliche Affäre und bleibt dabei doch kühl und unnahbar. Es geht um Macht und Unterordnung, um die Spannung zwischen heimlicher, verbotener Lust und perfekter Fassade in der Familie und im Büro. Die Kritiker waren begeistert von Nicole Kidmans bravouröser Performance, für die sie am Ende die Coppa Volpi als beste Darstellerin gewann. Maria Wiesner schrieb in der FAZ treffend, die Regisseurin Halina Reijn benutze „das Genre des Erotikthrillers, um von weiblicher Selbstermächtigung zu erzählen“. Doch in „Babygirl“ es geht auch um die unschönen Seiten femininer Selbstermächtigung, wenn Romys Assistentin sie erpresst, um in der Firmenhierarchie aufzusteigen. Frauen sind eben nicht immer die besseren Menschen.

© Yannis Drakoulidis


Dagegen kommt die italienisch amerikanische Produktion „Queer“ ganz ohne Frauen aus. Daniel Craig zeigt sich wild entschlossen, sein Macho-Image als James Bond-Darsteller loszuwerden. Regisseur Luca Guadagninos Film wurde schon im Voraus als einer der Favoriten des Festivals gehandelt, bleibt aber deutlich hinter den Erwartungen zurück. Der Titel bezieht sich auf den gleichnamigen Roman von William S. Burroughs, des literarischen Gurus der Beat-Generation. Der Autor beschreibt darin seine Zeit Anfang der 50er Jahre in Mexiko-Stadt. Burroughs‘ Alter Ego William Lee verbringt seine Zeit damit, im Leinenanzug und Hut durch die Kneipen der Stadt zu streifen, sich maximal zu betrinken, nach männlichen Sex-Partnern Ausschau zu halten und sich zwischendurch einen Schuss zu setzen.

Schließlich trifft er auf Eugene (Drew Starkey), einen 30 Jahre jüngeren Amerikaner, der sich widerstrebend auf seine Avancen einlässt. Die Drogen und das ewige Saufen sind auf die Dauer ziemlich öde. Was der Film nicht problematisiert, ist Lees koloniale Überheblichkeit. Geld spielt für den amerikanischen Sex- und Drogentouristen im billigen Mexiko keine Rolle. Das Land und seine Politik interessieren ihn ohnehin nicht. Schwuler Sex wird ausgiebig inszeniert, trotzdem hat das Ganze etwas mechanisch Repetitives. Man kommt den Figuren nicht wirklich nahe, Daniel Craig bleibt bei aller darstellerischer Präsenz seltsam fremd und abwesend, ähnlich starr wie Nicole Kidman in „Babygirl“. Sex ohne Gefühle macht eben doch nicht glücklich.

 Nachdem William Lee etwas über die ultimative Droge Yagé gelesen hat, die aus der Ayahuasca Pflanze gewonnen wird und nur im tropischen Regenwald zu finden sei, macht er sich mit seinem Freund auf nach Südamerika. Und tatsächlich, bei einer amerikanischen Kräuterhexe werden sie fündig und kommen auf den Trip ihres Lebens. Wir sehen, wie sie zuerst ihr Blut, dann ihr Herz auskotzen. Keine Sorge, alles nur Halluzinationen!

Guadagnino hat Mexiko-Stadt wie auch den Dschungel in den römischen Cinecittá Studios nachgebaut, eine Kulisse, die in ihrer demonstrativen Künstlichkeit ermüdend wirkt. Für Hardcore Fans gibt es zwei Schnittfassungen mit einer Länge von 200 bzw. 150 Minuten. In Venedig wurde (Grazie a Dio!) die kürzeste mit 135 Minuten gezeigt. Wenn man an „Call Me By Your Name” und “Bones and All” denkt, wünscht man sich, dass Guadagnino seinen nächsten Film wieder mit Timothée Chalamet drehen möge.


Verwirrte Gefühle

Um Sex geht es auch in dem französischen Beitrag „Trois amies“ (Drei Freundinnen), doch vor allem um verwirrte Gefühle. Emmanuel Mourat hat als Schauspieler und Regisseur mehr als ein Dutzend Filme gemacht und gilt als ein Meister des Sprechens über die Liebe. Außerhalb von Frankreich kannten ihn bisher nur cineastische Insider. Das könnte sich jetzt ändern. In „Trois amies“ versammelt Mourat die Creme jüngerer französischer Schauspieler, deren ironisch eleganten Dialogen man mit Genuss folgt. Camille Cottin, Sara Forestier, India Hair, Grégoire Ludig und Vincent Macaigne spielen 2,5 Paare, die mit ihrem (Liebes-)Leben unzufrieden sind. Joan (India Hair) ist mit Victor (Vincent Macaigne) zusammen, der mit ihr in ein idyllisches Häuschen im Grünen ziehen möchte. Ihr wird das alles zu viel und sie deutet an, dass es so nicht weitergehen kann. Viktor, von ihrer Ablehnung tief getroffen, betrinkt sich und kommt bei einem Autounfall ums Leben.

Rebecca (Camille Cottin) ist mit Éric (Grégoire Ludig) zusammen, aber leidet unter der Routine der Beziehung und nimmt Kontakt auf mit dem attraktiven Maler Stéphane. Sie ahnt nicht von Érics heimlicher Affäre mit ihrer Freundin Alice (Sara Forestier). Es ist ein großes Vergnügen, zu beobachten, wie die Paare ihre Gefühle und Beziehungen jonglieren, und der Zuschauer dabei mehr weiß als die gefühlsverwirrten Figuren.

Wie Emmanuel Mourat diese Liebesverwicklungen inszeniert, das wirkt leicht und elegant, die Dialoge klingen authentisch und unprätentiös. Als Zuschauer erfreut man sich an der Stadtlandschaft von Lyon mit ihren Uferpromenaden an Saône und Rhone. Ein Stück intelligentes Kino, das bei der Preisverleihung leer ausging. Aber dazu später mehr.

© Motlys K1


Weniger verwirrt, aber durchaus komplex sind die Figuren in „Kjærlighet“ (Love) von Dag Johan Haugerud. „Love“ ist der zweite Film einer Trilogie, deren erster Teil „Sex“ auf der Berlinale lief, wo er u.a. den Preis der Ökumenischen Jury gewann. Für den 60jährigen Norweger, der sich vor allem mit Romanen und Drehbüchern einen Namen gemacht hat, ist es erst sein dritter Film als Regisseur. Als Inspiration für seine Filme nennt Haugerud Krzysztof Kiéslowskis Drei Farben-Trilogie aus den 90er Jahren.

Marianne (Andrea Bræin Hovig) arbeitet als Urologin in der Onkologie eines Osloer Krankenhauses, ihre Freundin Heidi macht sie mit einem geschiedenen Nachbarn bekannt, der zwei Töchter hat. Tor (Tayo Cittadella Jacobsen) ist als Pfleger auf derselben Station wie Marianne. Wenn er nicht schlafen kann, fährt er mit der Fähre hin und hin und sucht auf Grindr interessante Männer in der Nähe.

Haugerud begleitet seine Figuren im sommerlichen Oslo und lässt sie ausführlich über Liebe und Sex sprechen. Die Szenen sind diskreter und weniger explizit als in „Babygirl“ oder „Queer“, die Gespräche reflektierter und intelligenter. Es geht um die grundsätzliche Frage, was die beiden Protagonisten, die unverheiratete Marianne und der schwule Tor, vom Leben erwarten, wie sie ihre erotischen und emotionalen Beziehungen organisieren. „Love“ beginnt ruhig, gewinnt zunehmend an Tiefe und endet in einer Atmosphäre, in der die Figuren sich auf neue Erfahrungen einlassen und unterschiedliche Lebensentwürfe gleichberechtigt nebeneinanderstehen.