Berlinale der Frauen
Mit einer starken Präsenz von Frauen als Regisseurinnen, Darstellerinnen und Produzentinnen war die 63. Berlinale eine löbliche Ausnahme im internationalen Festivalbetrieb. Die Ökumenische Jury zeichnete mit Gloria nicht nur die Lebensfülle dieses chilenischen Films aus, sondern auch die überragende schauspielerische Leistung von Paulina García. Ein weiterer Trend war die starke Präsenz von osteuropäischen Filmen in allen Sektionen. Im Forum zeichnete die kirchliche Jury den serbischen Film Krugovi (Circles) aus, der ein Ereignis aus dem Balkankrieg zum Ausgangspunkt einer herausragenden Geschichte um Schuld und Versöhnung macht.
Es ist kein Zufall, dass der rumänische Film Child’s Pose den Goldenen Bären gewonnen hat. Der sehr differenzierte und dichte Film erzählt von einer Mutter aus der Oberschicht, die ihren Sohn aus den Fängen der Justiz retten möchte. In einem tragischen Autounfall kam ein Kind ums Leben. Der Sohn war mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs. Die ganze Energie des Films liegt jedoch bei der alles unter Kontrolle bringenden Mutter. Sie drangsaliert und kontrolliert derart ausgiebig ihre Umgebung, dass die Familie auseinander zu brechen droht. Luminta Gheorghiu verkörpert diese Rolle der Mutter mit solchen einer Eindringlichkeit und unerträglichen Kontrollsucht, dass eine Identifikation mit ihr beinahe unmöglich ist. Und doch kommt es, unter der klugen Regie von Calin Peter Netzer, zu einer erlösenden Begegnung zwischen Mutter und Sohn, zwischen Täter und Opfer, die allerdings die Tragik der Geschehnisse nicht aufheben kann.
Tragische Geschichten – Sehnsucht nach Erlösung
In der deutsch-serbischen Koproduktion Krugovi wird erzählt, was aus Menschen und Beziehungen entsteht, die auf einer Geschichte der Gewalt beruht. Wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird, ziehen sich die Wellen der Schuld, des Hasses und der Bitterkeit bis in die nächste Generation. Ist Versöhnung unter diesen Bedingungen überhaupt noch möglich? Der Regisseur Srdan Golubovic hat mit dem Film entscheidende Fragen aufgeworfen und deutet in seiner Geschichte an, dass selbst bei schwersten Verwundungen eine Perspektive für Mitgefühl und Vergebung aufscheinen kann.
Generell hat das osteuropäische Kino in Berlin einen sehr starken Eindruck hinterlassen. So auch der Film Eine Episode im Leben eines Eisensammlers von Danis Tanovic. Dieses Drama zeigt das Leben von Roma in Bosnien-Herzegovina. Laienschauspieler stellen ihr eigenes Leben dar. Der Film ist eine Option für die Armen in Europa, die im täglichen Kampf um ihr Überleben stehen. Was dies für eine Familie mit Kindern bedeutet, zeigt diese Episode eindringlich: in einem authentischen „cinéma direct“, in dem die Kamera einfach den Ereignissen folgt und diese dokumentiert.
Diesem sozialen Kino der Dringlichkeit standen in Berlin gepflegte, historische Dramen gegenüber. Juliette Binoche verkörperte Camille Claudel im Jahr 1915, ein ruhiges Filmgedicht mit meditativen Elementen, in dem die unerhörten Gebete und die Leidensgeschichte von Paul Claudels Schwester dargestellt werden. Oder in La religieuse, eine Adaptation der antiklerikalen Vorlage von Denis Didérot, die in einem Klosterfilm das Schicksal und das Freiheitsstreben einer jungen Frau im 18. Jahrhundert zeigt. Der Regisseur kann dem Stoff kaum etwas Neues abgewinnen. Auch der polnische Priesterfilm W Imie … (In the Name of …) setzt sich mit dem Zölibat auseinander, wirkt jedoch in der Problemlösung etwas rückwärtsgewandt. Interessant ist hier der Blick der Regisseurin Malgoska Szumowska auf das existentielle und sexuelle Leiden des Priesters. Doch angesichts der Dringlichkeit aktueller gesellschaftlicher Probleme, wirkten alle diese explizit religiösen Filme etwas abgehoben und weltfremd.
Täter und Opfer: gewagte Experimente
Im Panorama präsentierte Joshua Oppenheimer seinen verstörenden Doku-Essay The Act of Killing. Er greift darin den Genozid von 1965 auf, bei dem über eine Million Menschen als „Kommunisten“ abgestempelt und umgebracht wurden. Der Film erzählt aus der Perspektive eines Täters, der sich keines Unrechts bewusst ist. Vielmehr brüsten sich der Killer Anwar und sein Kumpan Herman ihrer Taten und zeigen wie sie Tausende umgebracht haben. Sie inszenieren sich dabei als Gangster und Musical-Helden. Der Film ist ein Täter-Porträt von Menschen, die reich geworden und noch heute in Indonesien an der Macht sind. Er gewährt damit einen tiefen Einblick in die Mechanik einer demokratisch getarnten Diktatur, die auf dem Mythos eines heldenhaften Massenmordes aufbaut.
Im Panorama stach mit Inch’Allah ein Film heraus, der aus der Sicht von Frauen den Konflikt zwischen Israel und Palästina darstellt. Geschickt führt die kanadische Regisseurin Anaïs Barbeau-Lavalette mit der Ärztin Chloë eine Figur ein, die zwischen Jerusalem und den besetzten Gebieten hin- und hergeht. Sie hat einen medizinischen Auftrag und muss daher neutral bleiben. Doch die Ungerechtigkeit und die grausamen Opfer, die den palästinensischen Frauen und Kindern abverlangt werden, führen zu einer zunehmenden Orientierungslosigkeit. Der Krieg trifft die Schwächsten und Chloë kann nicht mehr tatenlos zusehen. Die engagierte Erzählhaltung zeigt auf, dass gängige moralische Standards im Krieg nicht mehr gelten und von allen Beteiligten zwangsläufig durchbrochen werden.
Das Leben feiern
Einen deutlichen Kontrapunkt zu den bedeutungsschweren Filmen bot im Wettbewerb Gloria des Chilenen Sebastián Lelio. Beginnend mit einem typischen Midlife-Crisis-Motiv setzt sich die Hauptfigur Gloria mit ihren Wünschen und Bedürfnissen auseinander. Eine Liebesbeziehung wird zum Fiasko. Und so befreit sie sich aus den Erwartungen und Zwängen ihres Umfelds. Wenn sie sich zuletzt zu den Klängen von Umberto Tozzis gleichnamigem Canzone „Gloria“ auf der Tanzfläche bewegt, ist eine befreiende Sicht auf das dritte Lebensalter erzählt. Eine solche Rolle ist ein Geschenk für eine Schauspielerin, die Paulina García voll und ganz ausfüllt. Sie wurde dafür nicht nur mit dem Ökumenischen Preis, sondern auch mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet.