Auszeichnungen für ein politisch und sozial engagiertes Kino

Cannes 2019: Festivalbericht von Peter Paul Huth


Es war ein gutes Jahr in Cannes. Das Festival bot einem überzeugenden Wettbewerb mit einer spannenden Filmauswahl. Große Namen und Newcomer waren gleichermaßen vertreten. Eine Fülle von preiswürdigen Filmen, die es der Jury nicht leicht machten.

Bevor Jury-Präsident Alejandro Gonzalez Iñáritu den Gewinner der Goldenen Palme verkündete, erwähnte er noch einmal die hohe Qualität der ausgewählten Filme und die Schwierigkeit, sich auf einen als Sieger zu verständigen. Trotzdem votierte die Jury am Ende einstimmig für den Koreaner Bong Joon Ho und seinen Film "Parasite", der auch der Favorit der Kritiker war. "Ein Abstimmungsergebnis wie in Nordkorea", wie der polnische Regisseur in der Jury, Pawel Pawlikowski, scherzhaft kommentierte. Es war die erste Goldene Palme für Südkorea und eine verdiente Anerkennung für Bong Joon Ho, der sich mit Filmen wie "The Host" und "Snowpiercer" bei Insidern längst einen Namen gemacht hatte.

PARASITE ist eine vielschichtige Parabel über die moderne Klassengesellschaft. Zwei Welten treffen aufeinander, als sich eine Familie aus der Unterschicht im Haushalt eines reichen Unternehmers einnistet. Arm und Reich, Klassenkampf auf koreanisch. Nicht als Sozialdrama inszeniert, sondern als Farce mit Slapstick, schwarzem Humor und überraschenden Wendungen. Regisseur Bong Joon Ho verbindet unterschiedliche Genres zu einer abgründigen Satire über soziale Gegensätze nicht nur im Korea von heute.

Der zweite große Favorit im Wettbewerb war "Dolor y Gloria" (Schmerz und Ruhm) von Pedro Almodóvar. Ein sehr persönlicher Film des 69jährigen Spaniers. Es geht um Alter, Kreativität und Erinnerung. Der Film ist weniger schrill und extravagant, als als man es sonst von ihm gewohnt ist.  Antonio Banderas spielt Almodóvars Alter Ego, einen Regisseur in der Krise, der einen melancholischen Blick auf sein Leben und filmisches Werk wirft. Dafür gewann er den Preis als bester männlicher Darsteller. Man spürt, wie gut er Almodóvar kennt. Banderas war sichtlich gerührt und verwies auf ihre lange Freundschaft und die acht Filme, die sie zusammen gemacht haben.


Mit ihrer Preisvergabe setzte die Jury deutliche Zeichen für ein sozial und politisch engagiertes Kino. Zum Beispiel, indem sie das Kinodebüt "Atlantique" von Mati Diop mit  dem Großen Preis der Jury auszeichnete. Die 36jährige Französin mit afrikanischen Wurzeln ist in einer Künstlerfamilie in Paris aufgewachsen. Ihren ersten Spielfilm hat sie im Senegal gedreht. Es geht um die ökonomische Misere, die die Männer zur Emigration nach Europa treibt. Zugleich eine Liebes- und Geistergeschichte, die mit ihren ausgesucht schönen Darstellern manchmal etwas glatt wirkt.

Härter geht es in "Les Misérables" zu, der im Einwanderer-Milieu am Stadtrand von Paris spielt. Hier, in der berüchtigten Banlieue von Montfermeil, ist der Regisseur Ladj Ly geboren und aufgewachsen. 2005 kam es dort zu gewalttätigen Unruhen, als zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei ums Leben kamen. Ladj Ly, ebenfalls ein Filmemacher mit afrikanischen Wurzeln, hat das alles erlebt und mit der Kamera dokumentiert. Er kennt die Schikanen und die Gewalt der Polizei aus eigener Erfahrung. Auf gelungene Weise hat er in "Les Misérables" den dokumentarischen Blick mit einer fiktionalen Geschichte verbunden.


Der Titel zitiert Victor Hugos berühmten Roman, der zum Teil in dieser Gegend spielt. Eine Spezialeinheit der Polizei gerät in eine Konfrontation mit Jugendlichen aus dem Viertel. Ein harmloser Anlass löst eine Spirale der Gewalt aus. Dafür wurde Regisseur Ladj Ly mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Zusammen  mit dem Brasilianer Kleber Mendonca für seinen Film "Bacurau", auch dies eine Studie über Gewalt und Widerstand. Ein Dorf im abgelegenen Nordosten Brasiliens wird auf mysteriöse Weise bedroht. Auch Kleber Mendonca und sein Co-Regisseur Juliano Dornelles benutzen Elemente des Genrekinos für eine Allegorie auf das Brasilien von heute. Während sie am Drehbuch arbeiteten, tauchte der Rechtsradikale Jair Bolsonaro als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen auf, die er am Ende gewann. Eine seiner ersten Massnahmen  war die Abschaffung des Kulturministeriums. "Eine Schande und ein Skandal", wie Kleber Mendonca betont. Sein Film hat etwas Prophetisches, er nimmt ein Klima der Bedrohung vorweg, das heute in Brasilien Realität geworden ist.

Auch der Regiepreis für die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne setzte ein deutliches Zeichen für ein politisch engagiertes Kino. "Le jeune Ahmed" (Der junge Ahmed) ist die Geschichte eines13jährigen Jungen, der unter dem Einfluss eines demagogischen Imams zum radikalen Islamisten wird. Er beschimpft seine Mutter wegen ihres weltlichen Lebensstils und attackiert seine Lehrerin, die versucht, ihm eine andere Sicht des Islam nahezubringen. Ahmed ist so gefangen in seiner Hingabe an den Djihad, dass alle Versuche, ihn von seinen fanatischen Überzeugungen abzubringen, scheitern. Die Brüder Dardenne setzen dieses Drama eines fanatisierten Jungen sehr einfühlsam in Szene. Zugleich spürt man ihre Ratlosigkeit angesichts dieses existentiellen und auch gesellschaftlichen Dilemmas. 


Ein religiöses Thema greift auch der Amerikaner Terrence Malick in "A Hidden Life" (Ein verborgenes Leben) auf. Er erzählt die Geschichte des österreichischen Bauern Franz Jägerstätter, der aus Gewissensgründen im 2. Weltkrieg den Wehrdienst verweigert und dafür 1943 hingerichtet wurde. Ein Film, der die Kritiker spaltete. Die Ökumenische Jury lobte seine filmische Qualität und zeichnete ihn für seine überzeugende menschliche Qualität aus. Andere waren irritiert von Malicks Verklärung des bäuerlichen Lebens und von der Künstlichkeit der Inszenierung, z. B. wenn sämtliche deutschen und österreichischen Schauspieler mit unterschiedlichem Akzent Englisch sprechen.


Wie das Spiel mit dem Genre-Kino auch schiefgehen kann, zeigt Jim Jarmusch in seiner Öko-Zombie-Komödie "The Dead Don't Die" (Die Toten sterben nicht). Polar Fracking hat die Erde aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Natur spielt verrückt und die Untoten steigen aus den Gräbern. Jarmusch zitiert ausgiebig seine eigenen Filme und andere Referenzen, aber die Komik wirkt bemüht. Auch Bill Murray und Adam Driver als stoische Polizisten können den Film nicht retten.

Eigentlich sollte es der Höhepunkt des Festivals werden: Quentin Tarantinos mit Spannung erwartetes Werk "Once Upon a Time...in Hollywood" (Es war einmal...in Hollywood), genau 25 Jahre nachdem mit der Goldenen Palme in Cannes seine internationale Karriere begann. Doch die nostalgische Zeitreise  in das Hollywood des Jahres 1969 kann trotz einer Starbesetzung mit Leonardo di Caprio und Brad Pitt die Erwartungen nicht erfüllen.


Weitschweifig und selbstverliebt erzählt Tarantino von zwei abgehalfterten Jungs in Hollywood, der eine ein ehemaliger Star einer Western-Serie, der andere sein Stuntman. Als Suspense fügt er Charles Manson und seine mörderische Hippie-Kommune hinzu, die damals Roman Polanskis Lebensgefährtin Sharon Tate umbrachten. Tarantino verliert den dramaturgischen Bogen in einem Geflecht von B-Movies und TV-Serien. Auch die bemüht coole Sprache mit der ständigen Wiederholung von "fucking this... fucking that" ermüdet auf die Dauer.

Cannes 2019 war ein erfolgreiches Festival im Umbruch. Der Wettbewerb präsentierte mehr jüngere Regisseure und setzte politische Akzente. Eine Jury, die sich nicht von großen Namen beeindrucken ließ, sondern bei der Preisvergabe mutige Entscheidungen traf. Wir sind gespannt wie es weitergeht im nächsten Jahr an der Côte d'Azur.