Bisheriger Höhepunkt des Wettbewerbs war eindeutig „Dreams“, der neue Film von Michel Franco. Nach „Memory“ (2023) hat der mexikanische Regisseur zum zweiten Mal mit Jessica Chastain zusammengearbeitet. Sie spielt Jennifer, die mit dem Geld ihres Vaters eine Kulturstiftung aufgebaut hat – philanthropisches Kultur-Mäzenatentum, steuerlich absetzbar. Man unterstützt eine Ballettschule in Mexiko-Stadt, wo Jennifer den begnadeten Tänzer Fernando (Isaac Hernández) kennenlernt.
Die beiden beginnen eine leidenschaftliche Affäre, die sie mit wildem Sex fortsetzen, als Fernando in Jennifers edlem Haus in San Francisco auftaucht. Ihre Liaison funktioniert nur heimlich, denn öffentlich kann sich die elegante Society-Lady nicht mit einem mexikanischen Tänzer blicken lassen, der außerdem noch 12 Jahre jünger ist. Die Beziehung ist geprägt von dramatischen Trennungen und erotischen Versöhnungen.
Jessica Chastain, die vor drei Jahren einen Oscar für ihre Darstellung der TV-Predigerin Tammy Faye gewann, wechselt mit atemberaubender Intensität von gesellschaftlicher Etikette zu wilder Erotik. Die Entdeckung des Films ist der renommierte Tänzer Isaac Hernández, der gerade als erster Mexikaner in das American Balett Theatre berufen wurde.
Als sich Fernando schließlich einen Platz im San Francisco-Ballett ertanzt hat, wird er verhaftet und als illegaler Migrant deportiert. Diese Sequenz ist so nüchtern und dokumentarisch inszeniert, dass klar wird, dass es sich hier um ein eingeschliffenes Muster handelt. Was bis dahin aussah wie eine Liebesgeschichte, die Kultur- und Klassengrenzen überschreitet, bekommt plötzlich härtere Konturen. Auf subtile Weise führt Regisseur Michel Franco den Paternalismus des kulturellen Charity-Engagements vor. Außerdem erscheint „Dreams“ angesichts von Donald Trumps angekündigten Massendeportationen von „illegalen Ausländern“ auf einmal wie der Film der Stunde, wobei man leicht vergisst, dass es dieselbe Praxis von Razzien und Abschiebungen auch unter Biden gab, wenn sie auch diskreter gehandhabt wurde. Eine Praxis, auf die Jessica Chastain in der Pressekonferenz verwies.
Mit ihr, einem der wandlungsfähigsten Stars des amerikanischen Kinos, stieg das Star-Barometer der diesjährigen Berlinale markant an. Vorher hatte Timothée Chalamet mit einer völlig überfüllten Pressekonferenz und seinem Auftritt auf dem Roten Teppich (mit Feinripp-Unterhemd in extravagantem Outfit) für Aufregung gesorgt. Chalamet war nach Berlin gekommen, um seinen Film „A Complete Unknown“ vorzustellen, in dem er den jungen Bob Dylan verkörpert, von dessen Ankunft im New Yorker Greenwich Village in den frühen 60er Jahren bis zu seinem legendären Auftritt beim Newport Folk Festival 1965. James Mangold inszenierte das Biopic nach der Buchvorlage „Dylan Goes Electric!“ von Elijah Wald, es wurde in der Sektion Berlinale Special" gezeigt.
Eine Musiklegende wie Bob Dylan darzustellen, ist ein ziemliches Wagnis, das Timothée Chalamet bravourös meistert. Er hat sich akribisch vorbereitet, singt und spielt Gitarre. Dabei trifft er sehr genau die Intonation von Dylan, ohne wie eine Coverband zu klingen. Ähnliches lässt sich über Monica Barbaro in der Rolle von Joan Baez sagen, die sich zuerst in den jungen Wilden verliebt, um schließlich entnervt zu sagen, „Bobby, you‘re quite an asshole“. Dieser Bob Dylan ist alles andere als ein nice guy, vielmehr einer, der mitten in der Nacht aufsteht und an seinen Songs bastelt. Auf die Frauen an seiner Seite nimmt er dabei wenig Rücksicht. Als er bei seiner Ex-Freundin Sylvie auftaucht und sie zum Newport Folk Festival mitschleppt, endet der Ausflug im Desaster. Nach Dylans Auftritt mit Joan Baez bricht Sylvie in Tränen aus und verlässt fluchtartig das Gelände. Der endgültige Abschied an einem Gitterzaun ist emotional bewegend, aber zum Glück ganz unsentimental in Szene gesetzt.
In Newport endet auch die Freundschaft mit der Folkmusik-Ikone Pete Seeger, kongenial verkörpert von Edward Norton, der den jungen Nobody bis dahin uneigennützig gefördert hatte. Dylans Auftritt mit E-Gitarre und Rockband ist Blasphemie für die strengen Folk-Puristen. Symbolisch zugespitzt und historisch nicht belegt ist Pete Seegers wütende Reaktion, als er kurz davor ist, mit einer Axt die Verstärkerkabel zu durchtrennen. Seeger wird mit seinem Banjo weiter aufrechte Protest Songs singen, während Dylan mit „Subterranean Homesick Blues“ und „Like a Rolling Stone“ seinen eigenen elektronisch verstärkten Musik-Kosmos entwirft.
Der echte Bob Dylan soll vom Film wie auch der Interpretation von Timothée Chalamet ziemlich angetan gewesen sein, sagt man. Das will etwas heißen. „A Complete Unknown“ ist in den USA im Dezember gestartet und wurde prompt für acht Oscars nominiert, u.a. für den besten Film und die beste männliche Hauptrolle. In Deutschland wird er Ende Februar ins Kino kommen.