Die Zeit der toten Dauer
"Ich werde diesen Ort vermissen," sagt der ägyptische Freund auf der Uferpromenade von Locarno, die er seiner abendlichen Meditationsrunde vorbehalten hat - einer Pause der Besinnung in der Vielfalt der Bilder und Geschichten, die das Festival dem Besucher von morgens bis spät in die Nacht im Cinema Teatro des Casinos, in der Sporthalle des Palazzetto Fevi oder den anderen Kinos des Ortes verabreicht. Und, natürlich, auf der konkurrenzlosen Attraktion Locarnos, der magischen Freilichtbühne der Piazza Grande, deren Riesenleinwand und Dolby-Sound die mehrtausendköpfige Menge pünktlich zum Glockenschlag des Uhrturms in ein lauschendes Ohr, ein schauendes Auge verwandelt.
Trotz ihrer großzügigen Ausmaße vermochte die von Festivaldirektor Marco Müller mit aktuellen Hollywood-Produktionen und der Auslese von Cannes (und nur wenigen Wettbewerbsbeiträgen) als Publikumsmagnet programmierte Piazza den Andrang gelegentlich kaum zu fassen. Zum Beispiel bei John Woos "Face/Off", in dem sich John Travolta und Nicolas Cage nach einem operativen Identitätstausch in ein delirierendes Duell der Gewalt verstricken, das den Zuschauer zur Identifizierung mit einem falschen Terroristen und einem ebenso falschen FBI-Agenten nötigt. Dem Feuerwerk der Effekte läßt Woo die Schlußapotheose der Familie wie eine ausgebrannte rhetorische Floskel folgen. Auf die Auskunft des Augenscheins ist auch in Barry Sonnenfelds Science-Fiction-Komödie "Men in Black" kein Verlaß, die das Festival eröffnete. Sie konfrontiert uns mit der fröhlichen Botschaft, daß die in den Medien, im Kino und in den Köpfen nistenden Außerirdischen längst unser aller Nachbar geworden sind, amtlich registriert und überwacht von einer technologisch avancierten Einwanderungsbehörde, die das irdische Refugium der galaktischen Exilanten verwaltet. Im schwarzen Anzug - und in aller Heimlichkeit, die notfalls ein temporäre Amnesie auslösendes Blitzinstrument sichert. Für alle Geblendeten heißt das: Sie haben nichts gesehen.
John Woos Kino der Perfidie und Barry Sonnenfelds Kino der Persiflage, diese beiden so bravourösen wie zynischen Exemplare eines in sich kreisenden Universums namens Hollywood, bildeten den herausfordernden Gegenpol zu einem Wettbewerb, den Locarno seit letztem Jahr nicht mehr allein dem "jungen" Film erster oder zweiter Werke des Nachwuchses, sondern dem "neuen" Film überhaupt widmet. Die zwar undefinierbare, aber für das um seine Attraktivität besorgte Festival unvermeidbare Öffnung bescherte Locarno mit Tony Gatlifs "Gadjo Dilo" einen Publikumsfavoriten, der mit seinem ungebrochenen Vitalismus neben einem Silbernen Leoparden unter anderem auch den Preis der Ökumenischen Jury gewann. Der Film widerlegt die negativen Vorurteile gegenüber Zigeunern mit positiven Kinoklischees. Als "verrückter Fremder" (gadjo dilo) in einem rumänischen Dorf gastfreundlich aufgenommen, erfährt ein junger Franzose die Kultur eines ausgegrenzten Volkes, das nur in seiner Musik Anerkennung findet. Gatlif macht aus dieser Begegnung eine Feier ursprünglicher Leidenschaften, kinogläubig, als könnten die bunten Bilder uns auch eine bessere Welt bescheren.
Ein moralisch nicht minder ambitionierter Film will uns seine Botschaft ebenso unmißverständlich, aber doch subtiler, in einer mehrfach gebrochenen Erzählung beibringen. "Fools" von Ramadan Suleman, ebenfalls mit einem Silbernen Leoparden geehrt, ist nicht nur der erste Spielfilm des bei Souleyman Cissé in die Lehre gegangenen Regisseurs, sondern auch der erste eines schwarzen Südafrikaners überhaupt - eine Produktion, an der sich neben Südafrika auch Mozambique, Zimbabwe und Frankreich beteiligt haben. "Fools" handelt von Schuldigen; und von der notwendigen Versöhnung unter denen, die in unterschiedlichem Maße schuldig geworden sind. Dabei geht es nicht etwa um die Unterdrückung der schwarzen Südafrikaner durch die Weißen. Obwohl ins Jahr 1989 verlegt, vor die Aufhebung der Apartheid also, rückt der Film die internen Verstrickungen der schwarzen community einer Township ins Bild, von der Identifikation mit dem Staat der Buren über die erzwungene Anpassung und Resignation bis zum guten Gewissen des Widerstands. Ein gebrochener, innerlich verwahrloster schwarzer Lehrer hat eine Schülerin vergewaltigt, ein Verbrechen, das ihn mit seiner moralischen Selbstzerstörung konfrontiert. Das ist die Parabel einer schuldigen Existenz, in deren Angesicht "Fools" nicht für Gerechtigkeit, sondern für die höhere Weisheit der Vergebung plädiert.
Den filmischen Moralisten verwandeln sich die sozialen Konflikte, auf die sie reagieren, in Kinometaphern. Denn, wie es in Harun Farockis für die Kasseler Documenta produzierten Filmessay "Stilleben" heißt (der in der Sektion "Cinéastes de présent" gezeigt wurde): "Es ist der Wahrheit nicht mehr zuzumuten, selbst zu erscheinen." Dieser Satz gilt nicht nur für die Dingwelt der Stillebenmalerei und der Werbefotografie, deren Zusammenhänge Farocki untersucht, sondern auch für den Film. Die Echtzeit-Fiktionen des iranischen Kinos haben nach dem Vorbild Abbas Kiarostamis diese Einsicht mit besonderer Ernsthaftigkeit beherzigt. Wie einer stilistischen Urformel folgen sie einem logischen Schachtelprinzip, das ihren dokumentarischen Gestus als "Film-im-Film"-Konstruktion offenbart. Das trifft auch auf den Gewinner des Goldenen Leoparden zu, "Ayneh" (Der Spiegel) von Jafar Panahi. Ein Mädchen, das nach der Schule ohne die gewohnte Begleitung der Mutter allein seinen Heimweg suchen muß, bricht plötzlich aus der Rolle der hilflos Verirrten aus - und zwingt so das Filmteam, seinen eigenen Wegen durch das Menschen- und Verkehrsgewühl Teherans zu folgen. Man hätte der Entscheidung der internationalen Jury für eine zwischen den Spiegeln und im Gestöber der Realitätspartikel versteckte Bekundung selbstbewußter Auflehnung leichter folgen können, wäre einem das Grundmuster des Films durch Kiarostami, aber auch durch den Erstling Panahis selbst ("Der weiße Ballon" von 1995, mit der gleichen Hauptdarstellerin) nicht schon allzu vertraut geworden.
Einen eigenen Weg zu finden: eine durch die eigene Handschrift beglaubigte Kinowelt zu erfinden, das ist unverkennbar die Ambition Tom Tykwers, der mit "Winterschläfer" in Locarno seinen zweiten Film nach "Die tödliche Maria" vorlegte. Der deutsche Wettbewerbsbeitrag wurde von den Jurys des Festivals völlig übergangen - zu Unrecht. Vielleicht, weil er sich als eine seltsam ungeschickte Liebesgeschichte mißverstehen läßt. In Wahrheit hat Tykwer ein größeres Thema. Es ist, wie schon der Titel des Films andeutet, die Nacht des Nichtwissens, die unser bewußtes Leben umgibt, die uns als Zufall oder Schicksal, als Verhängnis oder Glück begegnet. Ein Unfall geschieht, von dem sich später keiner der Beteiligten mehr Rechenschaft ablegen kann - nicht der aus der Ohnmacht erwachte Bauer (Josef Bierbichler), dessen Tochter in einem todesnahen Koma verbleibt, und auch nicht René (Ulrich Matthes), dessen im Suff geklauter Alfa im Schnee versinkt und der nach einer früheren Schädelverletzung nur noch erinnert, was er fotografiert hat. Der Skilehrer Marco (Heino Ferch) weiß nicht, wo sein Alfa geblieben ist, weil er sich mit Rebecca (Floriane Daniel) geliebt hat. Und die Krankenschwester und Laienschauspielerin Laura (Marie-Lou Sellem), die mit Rebecca in der mit den antiquarischen Hinterlassenschaften früherer Leben vollgestopften Bergvilla ihrer Tante zusammenwohnt, kann schon gar nicht wissen, daß sie mit René, der Zufallsbekanntschaft am Kneipentisch, ein Kind bekommen wird. Denn Kinder kriegen steht in ihrer Liste der größten Katastrophen ganz obenan.
Es ist ein Spiel der Kombinationen und Konstellationen, dessen Fäden der Film nur dem Zuschauer sichtbar macht: ein romantisches Prinzip, das der ästhetischen Reflexion eine Wahrheit zutraut, die dem Leben verborgen bleibt. Das Kino, sagt Marco Müller im Festivalkatalog, zeugt von einer Gegenwart, die ihre Vergangenheit vergessen hat und ihrer Zukunft ungewiß geworden ist - von einer Zeit der toten Dauer. Es versucht, sich ohne Tradition und ohne Tendenz selbst zu erfinden.
Erstveröffentlichung: Berliner Zeitung, 25.08.1997