Besucher, die nach Leipzig kommen, werden schon am Bahnhof von überdimensionalen Plakaten mit dem Logo von DOK Leipzig empfangen (nicht zu verwechseln mit dem traditionellen Fußballclub Lok Leipzig, heute überschattet von der kommerziellen Konkurrenz RB Leipzig). Eine Woche lang begegnet man dem FestivalLogo in der ganzen Stadt.
Im Grunde besteht DOK Leipzig aus zwei getrennten Festivals, auf der einen Seite die Filmvorführungen für das große Publikum, auf der anderen ein Branchentreffen für Fachbesucher, die kaum dazu kommen, sich Filme anzuschauen. Anders als beim Docfest Sheffield, wo die Verschränkung zwischen dem Filmprogramm und den Industry Events selbstverständlicher funktioniert.
Bei besagten Industry Events werden neue Projekte präsentiert, die sich in fortgeschrittenem Stadium der Endfertigung befinden. Gesucht werden zusätzliche Finanzierung, internationale Festivals, Fernsehpartner und Sales-Agenten. In diesem Jahr gab es neue Projekte von deutschen bzw. internationalen Filmemachern und als Besonderheit eine Fortsetzung der Initiative ‚Generation Afrika‘, die vor zwei Jahren von Arte initiiert wurde. Auch im Rahmen der Arte-Initiative ‚Generation Ukraine‘ wurden neue Filme im Rohschnitt vorgestellt. Im Literaturhaus gab es eine Vorführung des ukrainischen Films „Drei Frauen aus Mariupol“ von Svitlana Lishchynska, der vor zwei Jahren in Leipzig vorgestellt wurde und auf der diesjährigen Berlinale seine Premiere hatte.
DOK Leipzig hat eine lange Tradition als ältestes Festival für Dokumentarfilme in Deutschland. Das „Internationale Leipziger Festival für Dokumentar und Animationsfilm“, so der offizielle Name, wurde 1955 als „Gesamtdeutsche Leipziger Woche für Kultur- und Dokumentarfilm“ gegründet. Man wollte ein kulturelles Aushängeschild für die Anerkennung der DDR auf dem internationalen Parkett schaffen.
Eine Retrospektive unter dem Titel „Dritte Wege in der zweigeteilten Welt“ erinnerte an die ambivalente Geschichte des Festivals in den Zeiten des Kalten Kriegs. 1974 gab es einen Schwerpunkt zum kubanischen Dokumentarfilm. Die Rede, die der renommierte kubanische Regisseur Santiago Alvarez damals zur Eröffnung hielt, leider nur als Tondokument erhalten, bildete den Auftakt der Retrospektive. Alvarez betont die Relevanz des Dokumentarfilms und fordert seine Ebenbürtigkeit mit dem Spielfilm. Natürlich immer im Geiste und zum Wohle der kubanischen Revolution. Worte, die angesichts der aktuellen Wirtschaftsmisere, die landesweit alle Lichter ausgehen lässt, makaber klingen.
In „The Truth About Fidel Castro Revolution” (1959, Victor Pahlen) schwärmt Errol Flynn von seinem Freund Fidel Castro und dokumentiert für ein amerikanisches Publikum die Diktatur Batistas, den Guerillakampf in der Sierra Maestra und den Triumph der Revolution. Fidel Castro war für ihn ein karibischer Robin Hood, dessen Idealismus und Kampf für die Freiheit der Hollywoodstar bewunderte.
Auch Agnès Varda war von Kuba begeistert, als sie 1962/63 die Insel besuchte. Ihr von Michel Piccoli aus dem Off kommentierter Film „Salut les cubains“ (Hello Cubans) ist eine musikalische Collage aus fotografischen Impressionen, die das fröhliche Leben nach der Revolution zeigen. Mit ihrem naiv verklärten Blick auf das befreite Kuba, den sie mit zahlreichen europäischen Künstlern und Intellektuellen teilte, gewann Agnès Varda 1963 in Leipzig die Silberne Taube.
Ein weiteres Highlight der Retrospektive war „Les maîtres fous“ (The Mad Masters, 1955) einer der Schlüsselfilme des Ethnographen Jean Rouch. Rouch hatte Gelegenheit, eine Zeremonie der Hauka-Sekte von Wanderarbeitern aus dem Niger an der damaligen Goldküste, dem heutigen Ghana, mit der Kamera zu beobachten. Nacheinander werden ein Hammel, ein Hahn und ein Hund (!) geschlachtet, anschließend zeremoniell verspeist. Blutbeschmiert drehen sich die Teilnehmer in Trance, wobei sie die Rollen von Kolonialherren übernehmen, als Gouverneur, Richter, Hauptmann und Lokomotivführer. Dazwischen schneidet Rouch Paraden der britischen Kolonialmacht. „Les maîtres fous“, der das Genre der Ethnofiktion begründete, traf auf heftige Reaktionen unter Rouchs Kollegen in Paris und wurde sowohl von der britischen wie der französischen Besatzung verboten.
Erwähnt sei auch die bemerkenswerte Fernsehdokumentation „Ich bin Ernst Busch“ des Brecht-Schülers Peter Voigt aus dem Jahr 2000. Wer Busch bislang für einen parteitreuen Künstler hielt, wird eines Besseren belehrt. Die Biographie der musikalischen DDR-Ikone zeigt ihn als unangepassten Geist, der durchaus Konflikte mit der kommunistischen Partei austrug. In den 20er Jahren begann er seine Karriere als Sänger und Schauspieler in Filmen wie „Die Dreigroschenoper“ und „Kuhle Wampe“. Nach 1933 flieht er ins Exil nach Moskau, bevor er den stalinistischen Säuberungen gerade noch rechtzeitig entgeht und sich im Spanischen Bürgerkrieg engagiert. Ernst Busch singt vor den Internationalen Brigaden und nimmt republikanische Kampflieder auf. Von Frankreich wird er an Hitler-Deutschland ausgeliefert und nur dank der Intervention seines Theaterfreundes Gustav Gründgens vor der Hinrichtung gerettet. Im Gegenzug setzt er sich für Gründgens ein, als dieser 1945 verhaftet wird.
Nach dem Krieg fällt Busch bei der SED in Ungnade, weil er sich weigert, 1950 beim FDJ-Deutschlandtreffen der Jugend aufzutreten. Honecker, damals FDJ-Vorsitzender, kolportiert, Busch habe gesagt, das Zentralkomitee könne ihn mal. Daraufhin wird Busch wegen seiner angeblich nicht mehr zeitgemäßen Proletkult-Lieder und wegen „rechtsopportunistischer “Tendenzen gerügt. Er erhält Auftrittsverbot im Rundfunk, seine Platten wandern ins Archiv, Aufnahmen mit dem Rundfunkorchester werden geschreddert. Erst 1977 wird er rehabilitiert und erhält sein Parteibuch zurück.
Das aktuelle Filmprogramm von DOK Leipzig präsentierte sich relativ kleinteilig und wenig übersichtlich. Es gibt vier Wettbewerbe und zwei Sektionen außer Konkurrenz. Ein Höhepunkt im Publikumswettbewerb war die Schweizer Produktion „Avant il n’y a rien“ (There Was Nothing Here Before), die auf dem Festival in Rotterdam ihre Premiere hatte. Der Filmemacher Yvan Yagchi, der in einer palästinensischen Familie in Genf aufgewachsen ist, möchte einen Film über seinen jüdischen Jugendfreund machen, der inzwischen in einer Siedlung auf der Westbank lebt. Nach anfänglicher Zustimmung zieht der Freund seine Einwilligung zurück. Das Filmprojekt droht zu scheitern. Yvan Yagchi macht sich auf die Suche nach den Wurzeln seiner palästinensischen Familie und findet das Haus seines Urgroßvaters Khalid Badis in Jerusalem.
Er muss das Konzept des Films verändern und das Gesicht seines Freundes im bereits gedrehten Material unkenntlich machen. Das Ergebnis ist eine doppelte Konfrontation mit seiner persönlichen Identität und der palästinensischen Realität unter israelischer Besatzung. Der Film wurde vor dem 7. Oktober und dem Gaza Krieg fertig gestellt und erscheint im Rückblick wie ein Moment der Ruhe vor dem Sturm.
Warum der iranische Film „Maydegol“ von Sarvnaz Alambeigi in der Reihe „Young Eyes & Kids DOK “ lief, erschließt sich nicht, so wenig wie zuvor seine Premiere in der Reihe „Generation 14plus“ auf der Berlinale. Die Protagonistin Maydegol ist mit ihren Eltern aus Afghanistan in den Iran geflohen. Die Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen, ist nicht ihr Problem. Hier geht es nicht um gebildete und emanzipierte Frauen, die sich im religiös repressiven Iran nicht entfalten können. Der Film zeigt ein prekäres, marginalisiertes Milieu am Stadtrand von Teheran. Es geht darum, genug Geld zu verdienen, um als diskriminierte ausländische Minderheit zu überleben.
Wir sehen Maydegol wie sie auf einer Plantage Obst und Champignons schneidet. Erschöpft kommt sie im Dunkeln nach Hause, wo sie von ihrem Vater verprügelt wird (was wir nur hören, aber nicht sehen). Heimlich besucht sie einen Boxclub, ihr Ziel ist eine Karriere als professionelle Kickboxerin. Ihre Freundinnen machen sich lustig über die offiziellen anti-amerikanischen Slogans, während die Mädchen von einem Leben in den USA träumen. Doch als staatenlose Flüchtlinge haben sie keine Rechte und bekommen keinen Pass.
Eindrucksvoll war auch „L’oubli tue deux fois“ (Twice Into Oblivion), der mit dem Preis der Interreligiösen Jury ausgezeichnet wurde. In seiner vielschichtigen Dokumentation erinnert der haitianische Regisseur Pierre Michel Jean an das sogenannte „Petersilienmassaker“ von 1937, als der dominikanische Diktator Rafael Leónidas Trujillo Zehntausende haitianische Landarbeiter ermorden ließ. Ein makabrer Sprachtest entschied über Leben und Tod: Die kreolisch sprachigen Haitianer*innen, die das spanische Wort „perejil“(Petersilie) nicht aussprechen konnten, mussten sterben.
Kaum ein Festival ist so bemüht, auf der Höhe zu sein wie DOK Leipzig. Filme werden mit Trigger Warnungen versehen, „thematisiert körperliche Gewalt“, oder „thematisiert Kriegsszenen, Tod“. Entsprechende Warnungen wurden auch vor jeder Pitching-Session ausgesprochen. Festivalbesucher können sich an ein „Awareness-Team von ausgebildeten Antidiskriminierungsberater*innen“ wenden, falls sie sich nicht sicher fühlen, belästigt oder diskriminiert werden. Bei allen Buffets ist die Verpflegung ausschließlich vegetarisch/vegan. Wem das zu streng ist, der kann sich bei einem Wurststand auf der Straße mit Thüringer Rostbratwürsten versorgen