Die Preisverleihung des 79. Festivals von Venedig endete mit einer Überraschung. Der Goldene Löwe ging an den Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ von Laura Poitras. Es war das zweite Mal nach Gianfranco Rosis “Sacro GRA” (2013), dass ein Dokumentarfilm den Hauptpreis in Venedig gewann. Ein erfreuliches Zeichen, dass Dokumentarfilme ihr Nischendasein hinter sich gelassen haben und mittlerweile dieselbe Aufmerksamkeit finden wie Spielfilme.
Laura Poitras ist keine Unbekannte in der Filmwelt. 2015 gewann sie mit „Citizen Four“, einer Dokumentation über Edward Snowden, einen Oscar. In ihrem neuen Film portraitiert Poitras die amerikanische Fotografin Nan Goldin, die in den 1970er und 80er Jahren die LGBT Subkultur in Boston und New York fotografierte. Im Zentrum steht Goldins Engagement im Zusammenhang mit der Opoid Epidemie in den USA. Die Fotografin, die selbst abhängig war, organisierte internationale Proteste gegen die Sackler Familie, maßgeblich beteiligt an Purdue Pharma, dem Hersteller des süchtig machenden Schmerzmittels OxyContin. Die Proteste richteten sich gegen die Rolle der Sackler Familie als Kunstmäzene und ihre Spenden an renommierte Museen wie das Metropolitan Museum of Art und das Guggenheim Museum in New York, das Tate Modern und die National Portrait Gallery in London. Poitras dokumentiert wie Nan Goldin mit ihren Protesten schließlich Erfolg hat und die Museen weitere Spenden ablehnen.
Auch beim Großen Preis der Jury gab es eine Überraschung. Ausgezeichnet wurde das Spielfilmdebüt der Französin Alice Diop. In „Saint Omer“ rekonstruiert sie den Prozess gegen eine junge Frau, die ihre 15 Monate alte Tochter umgebracht hat, indem sie sie am Strand ablegt, wo sie ertrinkt. Rama, eine Autorin aus Paris, verfolgt den Prozess in der nordfranzösischen Provinz. Sie recherchiert für einen Roman über den antiken Medea Mythos. Was die Regisseurin und ihre Hauptfiguren verbindet, ist ihre Existenz als schwarze Frauen in Frankreich sowie ihre gemeinsame Herkunft aus dem Senegal. Allerdings bleiben die beiden Handlungsstränge relativ unverbunden. Die nüchterne Art wie diese traumatische Geschichte erzählt wird, gibt dem Film etwas Rätselhaftes, eine Qualität, die die Kritiker wie auch die Jury dennoch beeindruckte.
Dass Cate Blanchett als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde, war nach ihrer Tour de Force als Star-Dirigentin in „Tàr“ kaum anders zu erwarten. Schwerer nachzuvollziehen war dagegen der Preis als bester Schauspieler für Colin Farrell als einer der Hauptdarsteller in „The Banshees of Inisherin“, einer grotesken Komödie, die mit merkwürdigem Humor von zwei Männern auf einer Insel vor der irischen Westküste erzählt und viele Kritiker begeisterte. Colin Farrell kommt aus dem verwunderten Staunen nicht heraus als Brendan Gleeson ihm das grundlose Ende ihrer Freundschaft verkündet. Nach einer Litanei absurder Dialoge spitzt sich die Konfrontation auf blutige Weise zu. Finger werden abgeschnitten, ein Haus angezündet und ein Zwergesel stirbt. Das alles spielt sich im ländlichen Irland des Jahres 1923 ab. Man darf vermuten, dass Autor und Regisseur Martin McDonagh („Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“), eine Parabel auf den Irischen Bürgerkrieg im Sinn hatte, der mehrfach erwähnt wird und dessen Explosionen aus der Ferne zu hören sind. Warum die Jury den Drehbuchpreis an diese wirre Geschichte vergab, bleibt ein ungelöstes Rätsel.
Zum Schluss noch eine gute Nachricht. Luca Guadagnino wurde für „Bones and All” als bester Regisseur ausgezeichnet. Die 28jährige Taylor Russell, die verliebte Kannibalin an der Seite von Timothée Chalamet, erhielt den Preis als beste Nachwuchsdarstellerin. Es gibt also doch noch Gerechtigkeit auf dieser Festivalwelt!